piwik no script img

Montessori ausnahmsweise ohne Spielzeug

Kindergärten wollen ihre Schützlinge vor Suchtgefahren bewahren, indem sie das Spielzeug wegsperren. Auch Montessori-Häuser machen mit

ERLANGEN taz ■ Die Abkehr vom Konsumwahn, das Aussteigen, hatte in den 70ern und 80ern ihre Hochzeit. Deutschlands Kindergärten holen diese Phase jetzt nach, in den Horten heißt sie „spielzeugfreie Zeit“. Den Kindern werden dabei zeitweise alle Spielsachen entzogen. Ausgerechnet ein Montessori-Kinderhaus, üblicherweise ein Hort des Spielens, hat nun die neue Leere übernommen. Die Einrichtung in Röttenbach bei Erlangen lässt die Montessori-typischen Materialien zum Erwerb musisch-kreativer Bildung, sozialer Kompetenz und der Kulturtechniken im Schrank. Das Lernen soll in der so genannten sensiblen Phase nur noch anhand von Decken, Tischen oder Pappkartons geschehen. Die Freiheit, über ihre Spiel- und Lernwerkzeuge selbst zu entscheiden, wie es die Begründerin Maria Montessori empfahl, bekommen die Kinder erst nach Ende einer dreimonatigenTestphase wieder zugestanden: In diesen Tagen können die Kids wählen, welches Spielzeug aus dem Schrank sie haben wollen.

Gwendoline, Selina und Katja wählen nicht mehr mit: Ihre Eltern haben sie aus dem Kinderhaus genommen. Die aufgebrachten Eltern nennen den Entzug von Spielzeug eine Gefahr für die kindliche Psyche. Sie haben einen Verein „Starke Kinder“ gegründet, um sich gegen die „Zeitgeist-Bewegung“ eines spielzeugfreien Kindergartens wehren zu können.

Bereits 1992 wurde das bundesweit erste Projekt „ohne Spielzeug“ im Landkreis Weilheim-Schongau durchgeführt. Seitdem haben es immer mehr Kindergärten übernommen. Sie erwarten sich durch den phasenweise Spielzeugraub eine gesteigerte Kreativität bei den Kindern. Und sie gehen davon aus, dass dies ein Mittel gegen Sucht sei. Die Kinder würden durch die Verhinderung von Abhängigkeit und Förderung von Lebensfähigkeit lebenskompetenter.

Problematisch an dem Fall in Franken ist, dass die Montessori-Pädagogik größten Wert auf Spielzeug legt. „Einem Kind solche Lernsituationen und -materialien vorzuenthalten oder das Kind sich selbst zu überlassen, kann nach Montessori Vernachlässigung sein“, schreibt der Kölner Erziehungswissenschaftler Hans-Joachim Schmutzler. Er hat für die abtrünnigen Röttenbacher ein Gutachten verfasst, in dem er den Spielzeug-Entzug für unvereinbar mit der Montessori-Pädagogik erklärt.

Helena Pretzsch, die Leiterin des Röttenbacher Kinderhauses, hat eine andere Vorstellung. Sie will die Kinder mehr sich selbst überlassen. Die Erzieherinnen sollen bei ihr nur noch Beobachterinnen des Geschehens sein. Schmutzler hält dies für grundfalsch: „Wichtig ist, dass das Kind nicht nur irgendwelche zufälligen Gegenstände zum Spielen vorfindet, sondern dass diese auch der methodischen Anregung und Anleitung bedürfen.“ Montessori habe den Grundsatz vertreten, dass ein Zuviel an Material das Kind überfordert und ein Zuwenig zu geistiger ‚Unterernährung‘ führt.“

Peter Böttger, einer der rebellierenden Väter, kann dem nur zustimmen. Er hat bei seinem Sohn „gesteigerte Aggressivität“ beobachtet, seit das Spielzeug weg ist. Auch Wolfgang Behr, berichtet er, habe schlechte Erfahrungen mit dem Konzept gemacht. Er und die anderen Eltern des Mainzer Stadtteil-Kindergartens Laubenheim seien aus heiterem Himmel mit dem Wegsperren der Spielsachen konfrontiert worden – mit dem Argument, Ostereier-Bemalen würde ja auch nicht zur Abstimmung gestellt. Behr hält den Spielzeugentzug aber für einen wesentlichen Eingriff in die Erziehungsarbeit. Statt Regelververmittlung herrsche im Kindergarten ein heilloses Chaos.

„Die Kinder in den Mittelpunkt stellen, nicht das Spielzeug.“ So beschreibt die Leiterin des Kindergartens in Mainz-Laubenheim, Elke Röhrig, ihre Motivation. Sie meint, die Kinder würden durch das Spielen ohne Spielzeug tatsächlich vor Suchtgefahren bewahrt. Sie will auch beobachtet haben, dass die Kommunikation zwischen den Kindern durch Rollenspiele dauerhaft verbessert werde. Röhrig verweist auf eine Studie einer Landesarbeitsgemeinschaft Bayern der Aktion Jugendschutz: „Wir machen doch so was nicht aus Jux und Dollerei!“

Für Helena Pretzsch, Leiterin des Röttenbacher Kinderhauses, ist alles nur eine Frage der Kommunikation: „Die Kinder sollen sich nicht hinter der Langweile verstecken: Wenn sie einen Stift zum Malen wollen, sollen sie begründen, was sie machen wollen und wozu sie ihn brauchen.“ Wie das konkret aussah, weiß Böttger zu berichten. „Ein Junge wollte einen Dinosaurier malen, bekam aber keine Stifte.“ Er solle es doch mit Erdfarben probieren, richteten ihm die Kindergärtnerinnen aus. JÖRG VÖLKERLING

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen