: Zum Denken befreien
Elternverbände fordern zu einen Erziehungskonsens zwischen Eltern und Lehrern auf. Die Schulen müssen künftig mehr Verantwortung übernehmen
von STEPHANIE VON OPPEN
Wenn es um fehlgeschlagene Erziehung geht, dann weisen sich Eltern und Lehrer gerne wechselseitig die Schuld zu. Nachdem vor einigen Wochen Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf eine „strengere Erziehung“ einklagte und der stern letzte Woche eine alarmierende Studie über die Lebenssituation von Jugendlichen veröffentlichte, wurde gestern in Berlin ein neues Positionspapier zur Erziehungssituation in Deutschland vorgestellt. Darin fordern Bundeselternrat (BER) und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Lehrer und Eltern dazu auf, ihre Schuldzuweisungen zu beenden. Vielmehr müsse in der Gesellschaft ein Diskurs mit allen Beteiligten geführt werden, wie eine „zukunftsfähige und vorbildliche Erziehung“ aussehen könnte. Eltern und Lehrer sollten sich als Partner verstehen und einen „Erziehungskonsens“ verabreden.
Mit Erziehung seien weniger die so genannten Sekundärtugenden wie Ordnung und Fleiß gemeint, vielmehr gehe es um Erziehung zur Verantwortung, betonte Ludwig Eckinger, Bundesvorsitzender des VBE. Um diese „demokratische Erziehung“ zu gewährleisten, müssten Unterricht und Erziehung enger miteinander verknüpft werden. „Die kognitive Lernleistung muss zu Gunsten der sozialen Leistung abnehmen“, forderte Eckinger und verwies darauf, dass die Schule für viele Kinder häufig der letzte Ort sei, wo sie Geborgenheit entdecken können. Diese Aufgabe könne die Schule mit der jetzigen Ausstattung allerdings kaum bewältigen.
Auch Renate Hendricks, Vorsitzende des BER, forderte, dass der Erziehungsauftrag der Lehrer gestärkt werden muss und dies in der Lehreraus- und -fortbildung zu berücksichtigt ist. Hendricks sprach sich außerdem für pädagogische Ganztagsangebote aus, damit besonders Frauen ohne schlechtes Gewissen ihrem Beruf nachgehen können. Sinnvolle pädagogische Arbeit könne es aber nur geben, wenn die Erziehungsarbeit einen höheren Stellenwert bekomme. So müssten Erzieherinnen besser bezahlt werden und wie in anderen europäischen Ländern auch ihre Ausbildung an einer Fachhochschule absolvieren.
Bei aller Verantwortung, die dem Staat zukomme, hätten die primäre Erziehungsverantwortung immer noch die Eltern, betonen die Verfasser des Papiers. Eltern sollten den Mut haben, Position zu beziehen und Konflikte zu riskieren. „Jugendliche brauchen Reibung“, so Eckinger. Dabei dürfe Autorität nicht missbraucht werden, aber das Gegenmittel könne auf keinen Fall Erziehung im Laisser-faire-Stil sein. Hendricks regte an, dass sich Eltern gegenseitig unterstützen. Oft werde Versagen in der Erziehung als persönliches Versagen beurteilt. Man müsse ein Klima schaffen, um über Erziehung zu reden.
Eckinger und Hendricks waren sich außerdem darin einig, dass die Begabungsdiskussion neu geführt werden muss. In den Schulen werde zu viel Wissen vermittelt, so Eckinger. „Die Schule verfehlt den Auftrag, zum Denken zu befreien.“ Eine entwickelte, selbstbewusste Persönlichkeit sei in den Chefetagen der Wirtschaft gefragt. „Ein Grund mehr für Arbeitgeber, sich nicht aus der Verantwortung zu ziehen, wenn es um qualifizierte Ganztagsangebote geht“, unterstrich Hendricks.
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