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„Wir stehen am Rande der Krise“

„Am Arbeitsmarkt ist zu wenig getan worden. Hier gab es Hü und Hott, aber im Prinzip nichts Neues.“

Interview HANNES KOCH

taz: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt jetzt nur noch ein Prozent Wirtschaftswachstum für dieses Jahr voraus. Ist Bundeskanzler Gerhard Schröder mit seiner Ansage, die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu drücken, gescheitert?

Klaus Zimmermann: Angesichts der bloßen Zahlen muss man das wohl so sagen. Wir erwarten für das Jahr 2002 im Durchschnitt 3,8 Millionen Arbeitslose. Schröders Ziel ist aus unserer jetzigen Sicht nicht zu erreichen. Aber ist das ein Scheitern des Kanzlers? Die Weltwirtschaft hat sich ungünstig entwickelt.

Hat der Kanzler zu sehr darauf gesetzt, dass es die Konjunktur schon richten wird?

Er hat sehr darauf vertraut. Aber makroökonomisch betrachtet, ist die Politik seiner Regierung durchaus erfolgreich. Durch den Beschäftigungspakt mit den Gewerkschaften blieben die Lohnsteigerungen gering. Auch durch die Steuerreform wurde ein Zeichen gesetzt. Ohne diese Maßnahmen wären wir heute ganz woanders. Die Zahl der Arbeitslosen würde im nächsten Jahr nicht bei 3,8, sondern deutlich über vier Millionen liegen.

Sie analysieren, dass die Effekte der Steuerreform aufgefressen wurden, weil die Preise für Energie und Nahrungsmittel arg gestiegen sind. Ist die Reform zu mager ausgefallen?

Nein, sie hat schon eine massive Entlastung gebracht. Vierzig Milliarden Mark sind ja etwas. Dass die steigenden Preise die zusätzliche Kaufkraft aufsaugen, hätte weder Schröder noch irgendeine Regierung voraussehen können.

Was hätte die Regierung tun müssen, um ihr Ziel zu erreichen?

Man hätte zum Beispiel die Ladenöffnungszeiten reformieren können, um den Umsatz im Einzelhandel zu steigern. Auch am Arbeitsmarkt ist zu wenig getan worden. Hier gab es Hü und Hott, aber im Prinzip nichts Neues.

Was hat das Bündnis für Arbeit bewirkt?

Es dümpelt vor sich hin. Man hätte in der aktiven Arbeitsmarktpolitik umsteuern können von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu staatlichen Zuschüssen für Beschäftigte mit niedrigen Löhnen. Das wäre für die Unternehmen ein Anreiz gewesen, Leute einzustellen. Diese Idee des Kanzleramtes ist jedoch in den Diskussionen erstickt. Wenn die Arbeitsämter jetzt ihre Vermittlungsmethoden verbessern, ist das zwar begrüßenswert. Trotzdem liegt es nicht in erster Linie an der mangelnden Bereitschaft der Arbeitnehmer, dass sie keine Stellen finden, sondern am Mangel an Jobs.

Wie viele neue Stellen würde ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor bringen?

Das hängt vom Geld ab – 400.000 bis 800.000 Stellen. Die Arbeitslosenzahl würde dann bei gut drei Millionen liegen.

Was empfehlen Sie der Regierung jetzt?

Es ist sehr wichtig, nicht auf Kosten der Konjunktur den Sparkurs im Bundeshaushalt fortzusetzen. Die Ausgaben dürfen nicht gekürzt werden. Die Steuerausfälle und Defizite, die durch die Konjunkturschwäche entstehen, sollte man zulassen und durch zusätzliche Schulden decken.

Bundesfinanzminister Hans Eichel sollte seinen Spareifer bremsen?

Allerdings. Das heißt aber nicht, dass er mittelfristig vom Weg der Konsolidierung abweichen soll.

Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel schätzt, dass Eichel bis zu fünf Milliarden Mark neue Schulden aufnehmen müsste, um die neuen Löcher zu stopfen.

Von der Größenordnung her könnte das hinkommen.

Verstößt Deutschland damit gegen den Vertrag von Maastricht, der die maximale Neuverschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt?

Die zu erwartende Neuverschuldung verletzt den Vertrag nicht.

Nach Maastricht wurden die Möglichkeiten zur Schuldenaufnahme noch weiter eingeschränkt – Deutschland dürfte dieses Jahr nur Schulden in Höhe von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufnehmen. Halten Sie das für sinnvoll?

Den rigiden Zielpfad zum Ausgleich des Bundeshaushaltes sollte man abschwächen. Die Regierungen müssen sich emanzipieren und die Notlage definieren. Das können sie ja gemeinsam tun. Die Bundesregierung sollte versuchen, das durchzusetzen.

Und Hans Eichel darf sich nicht sklavisch an die Zielvereinbarung halten?

Diesen Rat geben wir ihm.

In Ihrer neuen Analyse schlagen Sie auch höhere Lohnabschlüsse als in den Vorjahren vor.

Ich halte das für tolerabel. Die Tarifparteien sollten weiterhin mehrjährige Abschlüsse vereinbaren, um den Unternehmen eine verlässliche Planungsgrundlage zu geben. Die Lohnsteigerungen sollten sich am Zuwachs der Produktivität und der Kernrate der Inflation orientieren. Beide Ziffern liegen bei etwa 1,5 Prozent. Macht zusammen drei Prozent. Das würde die Kaufkraft stärken und damit den versickerten Effekt der Steuerreform etwas ausgleichen.

Die Steigerung der Produktivität liegt doch bei zwei Prozent und die Inflation gegenwärtig über drei. Das ergibt fünf Prozent möglichen Lohnzuschlag.

Das halte ich für sehr problematisch. Einen Nachschlag für die vergangenen Jahre sollten die Gewerkschaften nicht verlangen.

Die Leute müssen real mehr für Benzin und Nahrungsmittel ausgeben. Warum soll man diesen Verlust nicht ausgleichen?

Das ist schön sozial gedacht, führt aber zu weniger Beschäftigung, weil die Unternehmen dann wegen der ansteigenden Kosten verstärkt Arbeitsplätze wegrationalisieren. Wir stehen ohnehin schon am Rande der Krise. Wir haben einen scharfen Einbruch der Konjunktur. Damit wir nächstes Jahr wieder auf einen stabilen Pfad kommen, dürfen die Handelnden jetzt nicht ausbrechen.

Die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) kritisieren Sie massiv. Warum?

Die EZB hat die Zinsen praktisch nicht gesenkt, obwohl die Konjunktur eingebrochen ist. Sie hat dem Außenwert des Euro zu viel Gewicht gegeben und wollte wohl auch internationale Reputation gewinnen. Dies ist unnötig, weil keine Inflationsgefahr besteht.

Droht jetzt in Deutschland die große Rezession?

Wir können ihr noch entkommen. Wir schätzen für das nächste Jahr ein Wachstum von 2,3 Prozent. Das werden wir aber nur erreichen, wenn auch die US-Konjunktur wieder anspringt. Und wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen. In diesem Sommer hat EZB-Chef Wim Duisenberg die Gelegenheit, die Zinsen um einen halben Prozentpunkt zu senken.

Im Januar hat das DIW ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für dieses Jahr von 2,5 Prozent vorausgesagt. Im April waren es noch 2,1 Prozent, und jetzt liegen Sie bei 1 Prozent. Wie lange wird Ihre neue Prognose halten?

Eine gute Frage. Wir hoffen, dass wir am Ende des Jahres Recht behalten.

Die deutschen Wirtschaftsforscher überholen sich gegenseitig mit immer neuen Reduzierungen der Wachstumszahlen. Wie belastbar ist Ihre Einschätzung, dass es Ende 2001 wieder aufwärts geht?

Wir gehen jetzt durch eine Phase großer Unsicherheit. Immer, wenn mögliche Wendepunkte da sind, müssen die Prognosen revidiert werden. Das war auch früher so und ist nicht außergewöhnlich.

Wo liegt die besondere Unsicherheit, die Sie beschreiben?

Die hohen Energiepreise hat so keiner vorausgesehen. Aber auch die BSE-Krise mit ihren Preissteigerungen und die zögernde Haltung der EZB haben uns überrascht. Wir mussten unsere Annahmen über das Verhalten von Institutionen verändern. Ein weiterer Punkt ist der rapide Einbruch der Konjunktur in den USA.

Ist es nicht vorhersehbar, dass einer überhitzten Wachstumsphase über kurz oder lang ein ebenso rasanter Abschwung folgen muss?

Wir hatten schon längere Zeit angenommen, dass das Wachstum in den USA nachlässt. Aber das tat es einfach nicht. Da werden Sie vorsichtiger. Außerdem wurde ja sogar diskutiert, ob der Konjunkturzyklus ausstirbt. Die Frage war, ob man die New Economy des Internets mit den herkömmlichen Modellen noch richtig erklären kann.

Offenbar konnten doch die Prognostiker mit ihren Modellen die Entwicklung nicht richtig erfassen.

Es gibt Schwierigkeiten, die Lage in den Griff zu kriegen. Das muss man ohne Zweifel akzeptieren. Aber das betrifft die Zunft weltweit.

Sollte die Wirtschaftswissenschaft nicht etwas exakter sein als die Wettervorhersage?

Auch wenn die Wettervorhersage manchmal nicht stimmt, sind wir weiter auf sie angewiesen.

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