: Dick und rund vorm Fernseher
Mehr als die Hälfte der Erwachsenen ist übergewichtig. Bei Kindern und Jugendlichen ist es fast jeder Dritte, der zu viele Pfunde mit sich herum schleppt. Nicht seelische Erkrankungen, sondern sozialpsychologische Ursachen bedingen Adipositas
von ANDREA SCHNEIDER
„... Dicke ha’m ’n Doppelkinn, Dicke schwitzen wie die Schweine ...“ Vernichtend fällt der „dünne Hering“ Marius Müller-Westernhagen in einem seiner Songs über die „Dicken“ her. Damit schlankweg im Zeittrend. Doch allen Schönheitsidealen zum Trotz – knapp 60 Prozent aller Erwachsenen ab 18 Jahren in Deutschland waren 1998 übergewichtig. Laut Bundesministerium für Gesundheit musste bei 20,3 Prozent sogar von einer Adipositas (Fettsucht) gesprochen werden. Mit den Erwachsenen geraten auch die Kinder aus der Form: Gut 30 Prozent der Kinder in den alten Bundesländern leiden an Übergewicht, jedes zweite davon ist adipös. Ostdeutsche Kinder sind bisher noch nicht so schwer wie die Mädchen und Jungen im Westen – Übergewicht wurde im Osten bei jedem zehnten Kind erkannt, jedes zwanzigste leidet an Adipositas.
Noch in den 50er- und 60er-Jahren war das niedliche Pummelchen Sinnbild elterlichen Anteils am Wirtschaftswunder. Doch bei Adipositas geht es nicht um properen Nachwuchs als verklärendes Statussymbol für persönlichen Erfolg, sondern um knallharte medizinische Feststellungen. Berechnet wird der so genannte Body-Mass-Index, kurz BMI. Dividiert wird das Körpergewicht durch das Quadrat der Größe, angegeben in Metern. Ausgedient haben hingegen Berechnungsformeln wie etwa das Broca-Referenzgewicht: Körpergröße in Zentimetern minus 100. Ein Überschreiten um 20 Prozent führte früher zur Diagnose Adipositas. Doch dieser Index konnte bestenfalls eine grobe Orientierung für Menschen mit durchschnittlicher Größe sein.
Anders beim BMI. Ein Ergebnis unter 19 bei einer Frau beziehungsweise unter 20 bei einem Mann bedeutet Untergewicht – ganz gleich, wie groß die Gewogenen sind. Von Übergewicht spricht man ab 24 bei Frauen beziehungsweise 25 bei Männern. Adipositas beginnt bei 30, massive Adipositas ab 40. Birgt Übergewicht schon Gesundheitsrisiken, so sprechen Mediziner bei einer Adipositas von einem erhöhten Mortalitätsrisiko, da starke Fettleibigkeit in den allermeisten Fällen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Überanspruchung des Bewegungsapparates und häufig auch mit Diabetes einhergeht.
Das Erkrankungsrisiko trifft Kinder in besonderem Maße. Denn je früher massives Übergewicht auftritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Folgeerkrankungen und desto eher treten sie auf. An Herz-Kreislauf- Erkrankungen leiden bereits übergewichtige Jugendliche, oder die Hüfte macht nicht mehr mit. Doch Adipositas selbst ist als eigenständige Krankheit in den psychiatrischen Diagnoseglossars nicht anerkannt. Deshalb sprechen Mediziner wie Beate Herpertz-Dahlmann, Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Aachen, von einem Störungsbild.
Anders als bei Bulimie und Anorexie, also Ess-Brech-Sucht und Magersucht, liegen bei Kindern im Vorfeld massiver Gewichtszunahme nur selten seelische Störungen vor, sagt Beate Herpertz-Dahlmann. Scham, sozialer Rückzug und soziale Ängste sowie Depressionen treten jedoch als Folge der Adipositas auf.
Deren Behandlung muss nach Auffassung von Herpertz-Dahlmann verhaltenstherapeutische Aspekte beinhalten. Nicht nur reden, sondern „raus aufs Feld“. Das Feld kann dann für ein adipöses Mädchen der konsequente Besuch eines städtischen Mädchentreffs sein, um Gleichaltrige kennen zu lernen. Rollenspiele ermöglichen im Vorfeld, sich gegen Sticheleien wie „Du Fettmops“ angemessen wehren zu können. Den Kindern soll geholfen werden, sich so, wie sie sind, anzunehmen. Eine behutsame Gewichtsreduktion ist immer Teil der Therapie. „Das ist häufig einfacher, als man denkt“, sagt Herpertz-Dahlmann. Denn in der Klinik gibt es zwar häufige, allerdings auch regelmäßige Mahlzeiten. Da bleibt kein Platz mehr für zwischendurch genaschte Süßigkeiten.
Begleitende Depressionen treten nicht zwangsläufig auf. Denn zunächst fühlen sich dicke Kinder wohl in ihrer Haut, jedenfalls genauso gut beziehungsweise schlecht wie ihre schlankeren Altersgenossen. Sorgen über Folgeerkrankungen werden von den Eltern meist zur Seite geschoben. Speckfalten werden eher als süß umgedeutet und Besorgnis mit einem „Das wächst sich noch aus“ vom Tisch gewischt.
Nicht psychische Erkrankungen, sondern sozialpsychologische Ursachen tragen zu Adipositas bei. Dicke Kinder, so Herpertz-Dahlmann, sind häufiger allein zu Hause als schlanke. Mütter und Väter im Dauerstress wollen oder können sich nicht angemessen um ihre Kinder kümmern. Cornelia Regelsberger, Fachbereichsleiterin Gesundheit bei der Volkshochschule Hagen, beklagt den „Verlust von Ritualen“. Das gemeinsame Frühstück, Mittag- oder Abendessen, das gemeinsame Spiel mit den Eltern sind vielen Kindern fremd geworden.
Stattdessen bleiben einsame Abenteuer am Computer oder mit Schokoriegeln versüßte Fernsehnachmittage. Eine Studie aus den USA hat erst jüngst nachgewiesen, dass Fernsehkonsum in Korrelation zum Körpergewicht steht: Je länger pro Tag geguckt wird, desto weiter schlägt die Waage aus.
Veranlagung spielt ebenfalls eine Rolle beim Dick- und Dickerwerden. Gibt es das Adipositas-Gen? Uwe Jaeger vom Institut für Humangenetik und Anthropologie in Jena sieht dies durch Verweis auf die Menschen der Frühzeit bestätigt. Vor der Sesshaftigkeit, so Jaeger, überlebte, wer in der Lage war, schnell eine Speckschicht aufzubauen. Denn nur bei einem Jagderfolg konnten sich die Nomaden der Frühzeit die Bäuche vollschlagen. Danach gab es mehrere Tage so gut wie nichts. Was früher überlebenswichtig war, wird heute angesichts des Nahrungsüberangebots schnell zur Fettfalle.
Cornelia Regelsberger setzt auf Prävention. Vor allem Lehrer und Erzieher müssen ihrer Ansicht nach besser auf den Umgang mit adipösen Kindern vorbereitet werden. Gemeinsam mit VertreterInnen von Gesundheitsämtern, Krankenhäusern, Verbraucherberatung und Schulämtern hat sie vor zwei Jahren das Netzwerk Adipositas im nordrhein-westfälischen Hagen gegründet. Angetreten für Hagen und die Region wurde das Team bald schon mit Anfragen aus ganz Deutschland überflutet.
Wie geht man mit adipösen Kindern um, ohne sie zu über- oder unterfordern? Cornelia Regelsberger erzählt von den Nöten einer Sportlehrerin, die erlebte, dass ein adipöses Mädchen nicht an einem Seil in die Höhe hangeln konnte. Sie habe das Mädchen, damit es eine Pause machen könne, auf der Bank sitzen lassen. Angemessen? Nein, sagt Regelsberger. Die Kinder dürfen nicht wegen ihres Gewichts und ihrer Unbeweglichkeit von allem befreit werden. Wichtig sei, in ihnen ein Körpergefühl zu wecken. Viele Kinder hätten unter den Speckmassen jedes Gefühl dafür verloren.
Wenn das Netzwerk Fortbildungen für Erzieher und Lehrer anbietet, kann es sich vor Anmeldungen kaum retten. 140 zumeist Frauen aus dem Erziehungsbereich meldeten sich allein zum ersten Weiterbildungstag an. Thematisiert wurden Fragen wie „Wie gestalte ich einen Elternabend, ohne übergewichtige Bereiche auszuklammern“? Oder: Wie entkräfte ich das Auswachs-Argument?
Das Netzwerk hat sich mit seiner Arbeit auf die Region Hagen beschränkt. Mehr ist nicht drin. „Gerne würden wir mit unseren Erfahrungen durch die Republik reisen. Dann könnten wir viele Nachahmer finden.“ Überall, das hat Cornelia Regelsberger erfahren, sind Lehr- und Erziehungskräfte begierig auf Unterstützung. Doch für weitere Fortbildungen, geschweige denn für Lehrreisen, fehlt das Geld.
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