Erste Schritte aus dem Ghetto

Vizebürgermeister Riaz Ahmad: „In der städtischen Bibliothek von Oldham lernen weiße und pakistanische Kinder ohne Probleme nebeneinander“

aus Oldham SEBASTIAN BORGER

„Live and let Live“ heißt der Pub im Erdgeschoss eines alten Hauses an der Glodwick Road – leben und leben lassen. Die Fassade des Hauses indes spiegelt eine andere Realität wider: Über dem Namensschild der Kneipe ist das Haus rußgeschwärzt, die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Das „Live and let Live“ im nordenglischen Oldham bleibt nach zwei Brandanschlägen bis auf weiteres geschlossen.

Oldham bei Manchester, sechs Wochen nach den schlimmsten Rassenkrawallen, die Großbritannien in den vergangenen 15 Jahren erlebt hatte. Am letzten Maisamstag entluden sich hier lang angestaute Spannungen zwischen Angehörigen der weißen Bevölkerungsmehrheit und jugendlichen Pakistanern und Bangladeschern, Mitgliedern ethnischer Minderheiten, die zusammen rund 14 Prozent der Bevölkerung Oldhams ausmachen. Vor dem Fish-and-Chips-Laden in der Roundthourn Road prügelten sich damals zwei Jugendliche, einer weiß, einer braun. Wenig später zog ein Dutzend Skinheads randalierend durchs Viertel Glodwick, das fast ausschließlich von Südasiaten bewohnt wird. Eine halbe Stunde später lieferten sich hunderte südasiatischer Jugendlicher Straßenschlachten mit der Polizei.

Seither haben sich solche Szenen anderswo in Großbritannien wiederholt. Auch in Burnley und Accrington, in Leeds und zuletzt in Bradford ließen Einwandererkinder ihren Frust an Autos, Häusern und Polizisten aus. Aber Oldham gilt als Synonym für alle Rassen- und Armutsprobleme, die zu den Krawallen führten. Und für die Strategie der Rechtsextremisten, die die Spannungen für sich zu nutzen verstehen.

In keiner anderen britischen Stadt, so die britische Kommission für die Gleichstellung ethnischer Gruppen, leben die verschiedenen Gemeinschaften räumlich so getrennt wie in der 220.000-Einwohner-Stadt Oldham: in Glodwick und Coppice die Pakistaner, in Westwood die Bangladescher. Das direkt angrenzende weiße Armutsviertel heißt Fitton Hill. Bei den Unterhauswahlen Anfang Juni erhielt die British National Party (BNP) hier mehr als 30 Prozent. Insgesamt erreichte BNP-Chef Nick Griffin –wichtigster Programmpunkt: freiwillige Rückwanderung aller Immigranten – im Wahlkreis mehr als 16 Prozent und damit landesweit das beste Ergebnis seiner Truppe.

Der Nelson Mandela von Oldham

Traurige Berühmtheit erlangte Oldham auch, weil Unbekannte einen Brandanschlag auf das Haus des Vizebürgermeisters verübten. Riaz Ahmad und seine Familie kamen unverletzt davon. Ahmad ist ein großer Mann mit goldener Brille und viel mehr grauen Haaren als auf den Fotos, die vor sechs Wochen in den Zeitungen zu sehen waren. Dauernd wandern die Augen des 48-Jährigen von einer Ecke in die andere.

Ahmad wirkt nervös. Und ratlos. Der Schreck steckt ihm noch in den Knochen, dass in der Krawallnacht seine Versuche, die randalierenden Kids zur Vernunft zu bringen, ignoriert wurden. Mittlerweile sei seine Autorität wieder hergestellt, beteuert der Labour-Stadtrat. Ahmad wirkt nicht wie ein Streiter für die Rechte von Immigranten, eher wie einer, der vermittelt. Im nächsten Jahr soll er als erster Immigrant das politisch einflusslose, aber symbolisch wichtige Amt des Bürgermeisters übernehmen. In der Stadtverwaltung nennen ihn manche, nur halb spöttisch, „unseren Nelson Mandela“.

Riaz Ahmad muss schon eine dicke Haut haben. Mitte Juni reiste eine achtköpfige Delegation aus Oldham nach London, um Innenminister David Blunkett die Lage zu schildern. Acht Männer, acht Weiße. Der Vizebürgermeister aber, der wenige Tage zuvor rassistisch motivierte Gewalt am eigenen Leib erfahren musste, enthielt sich nicht nur jeder Kritik, er schickte sogar noch eine zustimmende Pressemitteilung herum.

Vielleicht ist es diese Duldsamkeit, die Riaz Ahmad in den Augen der Jüngeren unglaubwürdig macht. Die sind in England aufgewachsen, reden im breiten Akzent von Lancashire und wollen sich nicht länger als Bittsteller behandeln lassen. „Der Respekt vor den Alten verschwindet. Die Kinder wachsen auf mit dem Gefühl: Diese Gesellschaft schuldet mir etwas“, erklärt Sharif Salim, der Leiter des Nachbarschaftszentrums im Stadtteil Coppice.

Jobs sind Mangelware

Zu dem Frust über offenen oder latenten Rassismus kommt die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Bangladescher und Pakistaner erzielen landesweit von allen Immigrantengruppen die schlechtesten Ergebnisse in der Schule. Dementsprechend sind ihre Aussichten auf Jobs. Während in Oldham durchschnittlich nur vier Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos gemeldet sind, liegt die Quote unter Pakistanern bei 16 Prozent, in den Bangladescher-Vierteln sogar bei 25 Prozent. Jobs sind Mangelware, seit in den Siebzigerjahren jene Textilfabriken zumachen mussten, die einst die Menschen vom indischen Subkontinent angelockt hatten.

Anspruchsvollere Jobs sind gänzlich außer Reichweite von Immigrantenkindern. Beim Rundgang durch die Redaktions- und Verwaltungsräume der Lokalzeitung Oldham Chronicle ist kein einziges dunkles Gesicht zu sehen. „In den zwanzig Jahren, in denen ich hier Verantwortung trage“, sagt Chefredakteur Jim Williams, „hatten wir nie eine Bewerbung aus den Reihen der ethnischen Minderheiten.“ So ist Williams 20-köpfige Redaktion zu hundert Prozent weiß. In die Viertel der Pakistaner und Bangladescher „schicke ich meine Reporter nur ungern“, erläutert Williams und rückt zum wiederholten Mal nervös die Brille zurecht. Kontakt zu ethnischen Minderheiten hält der Chronicle lieber per Telefon: „Wenn uns positive Geschichten mitgeteilt werden, drucken wir die selbstverständlich ab.“

Im Januar glaubte Williams solch eine Geschichte zu haben. „Drei Millionen Pfund teure Moschee für Oldham“, verkündete die Titelzeile. Im Text lobte das Blatt die örtliche Muslimgemeinde dafür, dass sie so viel Geld gesammelt hatte. „Ich hielt das für eine tolle Story. Später stellte sich heraus, dass die Leute im Viertel glaubten, wir hätten damit die British National Party munitioniert.“ Williams schüttelt den Kopf, so als könne er sich diesen Eindruck bis heute nicht erklären.

Dabei hätte der Chefredakteur nur sein eigenes Blatt lesen müssen. In den Tagen nach der „tollen Geschichte“ waren die Leserbriefseiten voll von anonymen Zuschriften, die sich über „städtische Zuschüsse“, „Regierungsgelder“, „Subventionen für Muslime“ zum Bau der Moschee verbreiteten – eine geballte Ladung Ressentiments, die das Blatt ungefiltert abdruckte.

Gelegentlich gemeinsame Projekte

In den Wochen seit den Krawallen von Oldham, bei denen auch das Chronicle-Gebäude einen Brandsatz abbekam, hat Williams das Gespräch mit Pakistanern und Bangladeschern gesucht. „Die halten uns für ein rassistisches Blatt“, sagt der Chefredakteur mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Irritation. Ob’s vielleicht daran liegt, mutmaßt Williams, „dass der Chronicle stets das berichtet, was uns die Polizei mitteilt“?

Ende Januar beispielsweise druckte das Blatt unter der Schlagzeile „Massiver Anstieg rassistischer Angriffe auf weiße Männer“ eine Statistik, die Leute wie Riaz Ahmad mitverantwortlich machen für die Spannungen in der Stadt: 60 Prozent der rassistischen Gewaltdelikte in Oldham würden von jungen Südasiaten an Weißen begangen. Wirklich? Besteht nicht die Möglichkeit, dass Weiße solche Straftaten eher anzeigen als Bangladescher und Pakistaner? Oder dass die Polizei neuerdings auch normale Wirtshausschlägereien als rassistisch einstuft? „Das könnte sein“, sagt Polizeichef Eric Hewitt. „Aber reden muss man darüber.“ Immer und immer wieder habe er auf die wachsende Zahl rassistischer Übergriffe auf weiße Oldhamer hingewiesen. „Wir haben seit längerem Probleme mit ethnischen Jugendgangs. Wir haben in Glodwick ein schlimmes Drogenproblem, vor allem mit Heroin. Und es gab Versuche, ethnische Sperrzonen einzurichten. Aber das wollte niemand hören.“

Dem drahtigen Mann mit der lauten Stimme kann man vieles vorwerfen, nur nicht, dass er mit seiner Meinung hinterm Berg hält. Dazu gehört auch, dass Südasiaten vor allem deshalb nicht zur Polizei kommen, „weil der Polizeidienst in ihrer Kultur nicht so hoch eingestuft wird“. Aber das macht nichts, findet der 57-Jährige, schließlich würden mehr Pakistaner oder Bangladescher seine Arbeit auch nicht besser machen, „außer vielleicht den PR-Wert zu erhöhen“. Unter den 410 Polizisten in Oldham sind 12 Nichtweiße, weniger als 3 Prozent.

Oldham unternimmt jetzt kleine Schritte. So schickt Jim Williams seine Redakteure demnächst auf Kurse, in denen sie für Rassismus sensibilisiert werden sollen. Polizeichef Eric Hewitt will Kontaktbeamte in die Schulen entsenden. Die Stadtverwaltung beschleunigt ein Programm für Schulpartnerschaften: Weiße und „schwarze“ Kinder, die auf ethnisch homogene Schulen gehen, sollen gelegentlich gemeinsame Projekte erarbeiten. Das Programm orientiert sich an Nordirland, wo katholische und protestantische Schüler auf diese Weise zusammenkommen. Vizebürgermeister Ahmad kennt auch einen Ort, wo das Zusammenleben der Ethnien tadellos funktioniert. „In der städtischen Bibliothek“, sagt er und es klingt fast rührend, „da lernen weiße und pakistanische Kinder ohne Probleme nebeneinander.“