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Die Zicke von der Alm

Alpiner Markenmythos: Eine „Heidi“-Ausstellung in Zürich feiert die Weltkarriere des Schweizer Mädchenstars vom Joghurtbecher über Designerkleider und Püppchen bis zum Heidi-Sexfilm

von DOROTHEE WENNER

An Tetto,

Guten Tag. Wir möchten beide wieder die Schweiz besuchen, nicht wahr? Wiesen, die sich vor unseren Augen ausbreiten, blauer Himmel und grandiose Berge. Dort auf dem Walkman die Heidi-CD hören . . . das ist ein Zustand des höchsten Glücks. (Mitteilung von „Tasuno“ auf einer japanischen Heidi-Fanseite im Internet)

Als der 1937 von 20th Century Fox produzierte Film „Heidi“ mit Shirley Temple in der Titelrolle in die Schweizer Kinos kam, war die Entrüstung groß. Eine Sondernummer der Zürcher Illustrierten beispielsweise wehrte sich gegen den Raub der Landesikone und kontrastierte den US-amerikanischen Kinderstar mit dem großformatigen Bild von einem „Heidi aus einem Schweizerdorf“: „Etwa so können wir uns das Heidi gefallen lassen. Wir brauchen nur durchs Land zu gehen, da finden wir sie zahlreich, die Vorbilder oder Modelle – jetzt aber laufen wir in das Kino und schicken Millionen über die Grenze, um zu sehen, wie eine riesige Filmgesellschaft das Heidibuch der Johanna Spyri geplündert und verunstaltet hat und wie ein Hollywood-Friseur ein Bergkinderhaupt mit amerikanischen Modelocken behängt.“

Die derzeit im „Strauhof Zürich“ stattfindende Ausstellung zum 100. Todestag von Johanna Spyri hält gegen Hollywood. Dabei ist Heidis Werdegang mindestens so interessant zu verfolgen wie der moderner Popstars, die es als Außenseiterinnen nach ganz oben in den Mädchenhimmel geschafft haben.

Um gleich zum Highlight vorzupreschen: In den verwinkelten Räumen des Strauhofs gibt es im ersten Obergeschoss ein dunkel vertäfeltes Zimmer, nicht gerade groß, aber gemessen an japanischen Wohnverhältnissen weitläufig. Das ebendort in Originalgröße rekonstruierte Jugendzimmer eines japanischen Heidi-Fans jedenfalls würde auch drei Mal hineinpassen und gibt dem staunenden europäischen Betrachter Rätsel auf: Wie kann sich ein noch so zierliches Mädchen in den liebevoll dekorierten Heidi-Devotionalien bewegen oder Schularbeiten machen? Poster und Püppchen, Schäfchen-Puschen, Heidi-Videos im Regal, Stundenpläne mit Alpenpanorama kuscheln sich ganz dicht aneinander gedrängt – es ist eine Heidi-Orgie in Pastellfarben und eine wahre Schatzgrube für Theoretiker der „cuteness culture“.

Heidi, die in Japan vor allem seit der 1974 ausgestrahlten Zeichentrick-Adaption „Arupusu no shojo haiji“ („Heidi, das Mädchen aus den Alpen“) bekannt wurde, gilt als Vorreiterin einer inzwischen in ganz Asien verbreiteten Mädchenkultur, die das niedliche rosa Kitty-Kätzchen als zentrale Gottheit verehrt. Wer hinter die plastiline Oberfläche dieser auf den ersten Blick nur regressiven Naivität schaut, entdeckt alsbald eine massenhafte Revolte junger Frauen gegen das Erwachsenwerden und das damit verbundene Übernehmen traditioneller Geschlechterrollen. Die „cuteness culture“, so schreibt Aya Domenig in dem hervorragenden Heidi-Buch zur Ausstellung, entspringt der Sehnsucht nach Verlängerung der Kindheit als Lebensphase, die mit Freiheiten assoziiert – und äußerst geschickt vermarket wird.

Die japanische Zeichentrick-Heidi leistete dabei Pionierarbeit. Sie repräsentiert eine Welt voll zwischenmenschlicher Wärme und versteht als armes Waisenmädchen unglaubliche Macht über Erwachsene auszuüben. Vor zehn Jahren entdeckte der japanische Spielzeughersteller Sunlike den Roman – präziser: die Zeichentrickverfilmung – als einen Steinbruch, aus dem sich von Schlüsselanhängern bis hin zu Kuschelzicklein gut verkäufliche Heidi-Paraphernalien kreieren lassen. Da die meisten japanischen Heidi-Fans inzwischen von Schülerinnen zu jungen Müttern herangewachsen sind, hat Sunlike sein Gadget-Angebot altersmäßig den Käuferinnen angepasst. Doch seit „Zuiyo – ACS Tokio“ für nachwachsende Fans noch in diesem Jahr eine neue „Heidi und Clara“-Zeichentrickserie planen, herrschen in der japanischen Cuteness-Culture-Szene große Besorgnis und Verärgerung, die vornehmlich auf Internetseiten ausgelebt werden. „Es ist ein ziemlich kompliziertes Gefühl. Ich fürchte mich, den neuen Heidi-Zeichentrickfilm anzuschauen“, schrieb beispielsweise eine schon etwas ältere Hiromi im Februar 2000.

Die älteren Heidi-Fans tun sich schwer, ihr Idol überhaupt in anderer Gestalt als der ursprünglichen, in diesem Fall: der japanischen 70er-Version zu akzeptieren. Streng literaturtheoretisch wäre es falsch, „Heidi“ als Mythos zu kategorisieren, weil es eine Originalfassung und eine namentlich bekannte Autorin gibt. Schließlich hat Johanna Spyri das Buch aber von Anfang an wie die Niederschrift eines überlieferten Märchens mit nebulösem Ursprung veröffentlicht, was der Mythos-Produktion Vorschub leistete. So verzichtete die Arzttochter und spätere Stadtschreiberin bei der Erstveröffentlichung 1880 auf die Nennung ihres Namens, sie erwähnte die Arbeit an der Erzählung in ihren Tagebüchern kaum, legte aber stattdessen manche falsche Spur, die auf biografische Übereinstimmungen zwischen ihrer Person und „Heidi“ hinweisen sollten. Das war sicher kein bewusstes Marketing, funktionierte aber als solches und war der Ausgangspunkt einer fast beispiellosen Kinderbuchkarriere, die Spyri zu ihrem 100. Todestag am 7. Juli zurück in die Feuilletons brachte.

Seit 1880 wurde „Heidi“ in über 50 Sprachen übersetzt, in schätzungsweise 50 Millionen Exemplaren gedruckt und unzählige Male verfilmt. Die Geschichte von Heidi, dem Almöhi, Geisenpeter und der wundersamen Heilung von Klara entwickelte über die Jahrzehnte ein visuelles und literarisches Eigenleben, das in gekürzten und jeweils national eingefärbten Variationen die Originalfassung immer wieder neu beerbt.

Dabei liegt es nicht zuletzt an der Kombination von Text und jeweils landes- und zeittypischen Illustrationen und Bildern, die Heidi von Vietnam bis Island so überaus beliebt machen. Das von Spyri beschriebene Almleben mit Zicklein, Blümchen und ewigem Sonnenschein hatte zwar eine entfernte Ähnlichkeit mit der damaligen Schweizer Realität, ist im Text jedoch so stark idealisiert, dass „Maienfeld“ zum universell funktionierenden Synonym einer Urheimat werden konnte. Insofern darf Heidi auch als ein früher touristischer Geniestreich angesehen werden, der zum Zeitpunkt seiner Entstehung beispielsweise für in die USA emigrierte Europäer ebenso funktionierte wie heute für junge Japanerinnen, die sich in eine vorzivilisatorische Gegenwelt träumen.

Dass diese Fantasien – wenn auch nur vage – in der realen Schweiz, nämlich in Maienfeld und Raganz, verortet sind, entpuppte sich über die Jahre nicht nur für Schweizer Hoteliers als Glücksfall. Maienfeld ist zur Heimat der Heimat geworden, nach der sich zivilisationsgeplagte Städter aller Welt in ähnlicher Weise sehnen können wie Heidi in ihrer Frankfurter Zeit.

Die Ausstellung widmet Heidi als Tourismus-Ikone denn auch gebührenden Raum. Wunderschön anzusehen sind vor allem die Schwarz-Weiß-Fotografien der Autoraststätte „Heidiland“. Diese Bilder hängen jedoch nicht profan an der Wand; sie wollen im Innern von einigen fest installierten Ferngläsern entdeckt werden, durch die man normalerweise von Aussichtspunkten aus Berggipfel oder andere Panoramen bewundert. Wer das so gekonnt präsentierte Touristentreiben im Mövenpick-Ambiente intensiv genug betrachtet, beginnt Heidis enormes Potenzial als exportfähiges Markenzeichen zu erahnen. Genaueres dazu kann, wer will, im Katalog nachlesen: wie von „SwissAir“ bis hin zu Mercedes das kleine Mädchen immer wieder gern als identitätsstiftende Werbeträgerin genutzt wurde, wie sich einzelne Dörfer rund um Heidis echte Originalheimat einen pikanten Dauerstreit liefern und um wie viel Prozent die Zahl der Übernachtungen zugenommen hat, seit 1997 ein Marketing-Verbundsystem die Widerstände der regionalen Bevölkerung gegen den „Heidiland“-Tourismus brechen konnte.

Johanna Spyri benutzte in der Geschichte archetypische Erzählstrukturen, wie sie heute in fast allen großen Hollywoodproduktionen zu entdecken sind. Und genau in diesem Rezept, das ein emotional eindeutiges Gut-Böse-Schema bedient, liegt auch das Geheimnis von Heidis zäher Überlebensfähigkeit verborgen: In Wort und Bild kann die rührende Geschichte immer wieder neue Reinkarnationen des Alpenmädchens hervorbringen. Dabei bleibt Heidi in all ihren Erscheinungsformen zwar immer irgendwie reaktionär, kitschig und antifeministisch, aber es ist durchaus ein subversiver Spaß mit intellektuellem Erkenntnisgewinn, in der Ausstellung die Vielzahl von Heidis auf Joghurtbechern, Armbanduhren, Moschino-Designerkleidern, in Sexfilmen und auf unzähligen Buchdeckeln, Briefmarken und Filmplakaten zu entdecken und miteinander zu vergleichen. Verblüffend ist dabei der Effekt, dass Heidi immer als Heidi erkennbar bleibt, egal ob sie als ein zartes, braunhaariges tschechisch-verträumtes Elfenmädchen oder als fettes, blondes Flower-Girlie auf der deutschen 70er-Jahre-Ausgabe erscheint. Das raffinierte Ausstellungskonzept funktioniert übrigens für Kinder und Erwachsene gleichermaßen gut: Beim Aufenthalt in der begehbaren Heidi-Schneekugel kann man sich ganz nach Belieben entweder einfach nur das simulierte Tannenrauschen um die Ohren fegen lassen oder aber völlig unangestrengt die Grenze zur Kulturwissenschaft übertreten.

Die Angst mancher Schweizer, irgendwelche ausländischen Heidi-Imitate könnten das Original bedrohen, scheint in der Ausstellung dagegen eher einem nicht ganz unpatriotischen Stolz auf die Leichtigkeit gewichen zu sein, mit der Heidi weltweit immer wieder von neuem die Herzen erobert. Kritische Zeitgenossen, die durch Heidis Wesen die Jugend von falscher Religiosität und trügerische Heimatidylle umnebelt sahen, dürften durch die äußerst vielseitige und fast multikulturelle Präsenz der Schweizer Ikone eigentlich auch besänftigt werden.

Bis 5. 8. im Strauhof, Augustinergasse 9, Zürich. Publikation: Heidi. Karrieren einer Figur. Hg.: Ernst Halter. Offizin Verlag, Hannover 2001. Weitere Informationen unter: www.heidi01.ch

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