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Wer die Spielregeln bestimmt

„Gleich haben wir’s geschafft“, freut sich Uwe. Aber dann trifft auch ihn der Knüppel, und Basti, der aus der Polizistenrolle schlüpft, fängt an zu schimpfen

„Langsam gehen, Ketten bilden, sich gegenseitig unterhaken, der Polizei genauso entschlossen entgegentreten wie sie euch“ – so lauten die Regeln

aus Berlin HEIKE HAARHOFF

Der Schlagstock trifft Monika auf die Schulter. Sie taumelt. Aber Sascha und Uwe neben ihr reagieren blitzschnell: An den Armen reißen sie sie wieder hoch. Monika darf nicht in die Knie gehen. Es gilt, die Mauer zu überwinden, zu der sich 15 Carabinieri unmittelbar vor ihnen aufgebaut haben. Noch einmal setzen sie an. „No violeeeence!“ Uwe brüllt die Bitte wie einen Schlachtruf, Englisch werden die italienischen Ordnungshüter ja wohl verstehen, und schon schreitet der Demonstrationszug los, 40 Beine bahnen sich ihren Weg. Ein wenig unkoordiniert und so aufgeregt, dass sie sich manchmal selbst in die Quere kommen, aber zielstrebig.

Sie drängeln sich gegen die Polizisten, auf dass deren Wand nachgeben möge, sie versuchen sich seitlich an ihnen vorbeizuzwängen, sie schlüpfen unter erhobenen Armen durch, bevor diese zuschlagen können. Sie geben alles, um auf die andere Seite zu gelangen, ins Hafengebiet also, wo sie die Vertreter der acht mächtigsten Industriestaaten wähnen, weit weg von ihnen, abgeschirmt. Und schaffen es doch nicht. Denn das Unterfangen ist nicht ganz einfach, wenn man ungeübt ist im Überwinden von Sperren und sich außerdem vorgenommen hat, auf Steine, Messer, Stangen, ja selbst auf die eigenen Fäuste zu verzichten. „Gleich haben wir’s geschafft“, ermuntert Uwe trotzdem die anderen. Da spürt auch er den Knüppel.

„Nix habt ihr geschafft.“ Das ist Basti. Er lässt die Papierrolle sinken, die ihn bis eben noch als Vertreter der italienischen Staatsmacht und damit als Feind auswies, und spricht plötzlich akzentfrei deutsch. Keine Polizei dieser Welt lasse sich beeindrucken von 20 wild durcheinander rennenden jungen Erwachsenen mit zerzaustem Haar, Arbeitshosen und ausgewaschenen T-Shirts, die gegen Globalisierung und Ausbeutung protestieren und in abgesperrte Zonen eindringen wollen, in denen Demonstrationsverbot herrscht. Doch das „Aktionstraining ziviler Ungehorsam“ in Berlin-Friedrichshain wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Genua will genau darauf vorbereiten.

Planvoll und überlegt soll es am kommenden Wochenende in Italien zugehen. Denn je größer das Polizeiaufgebot, desto verlässlicher müssen die internen Absprachen sein; dieser Grundsatz gilt spätestens seit den Castor-Protesten. Basti gibt Tipps: „Langsam gehen, Ketten bilden, sich gegenseitig unterhaken, der Polizei genauso entschlossen entgegentreten wie sie euch, und wegen Tränengas am besten Taucherbrillen mitnehmen.“ Er blickt in die Runde. „Offensiv gewaltfrei“ heißt die Protestform, die das Berliner Bündnis gegen den G-8-Gipfel in Genua gewählt hat. Konkret bedeutet das: „Wenn’s geht, die Polizei nicht und sich nicht provozieren lassen. Und bloß nicht wegrennen. Das macht sie nur aggressiv.“

Also gleich noch mal. „No violeeence!“ Und los. Diesmal haben es Basti und die anderen, die wieder in die Rolle der Polizisten geschlüpft sind, in der Tat schwerer, die in sich verhakelte Gruppe am Durchkommen zu hindern.

Basti kennt sich aus mit Gipfeln. In Prag jedenfalls war er voriges Jahr dabei, berichtet er, und damit hat er vielen in der knapp 60-köpfigen Gruppe, die sich mit 150.000 anderen Demonstrierenden aus ganz Europa in den nächsten Tagen nach Genua aufmachen werden, einiges an Erfahrung voraus: Die Mehrheit der zumeist 18- bis 35-Jährigen, die der deutsche Innenminister und seine europäischen Kollegen nach den Bildern von Seattle, Davos und Göteborg als „Polit-Hooligans“, „Krawallmacher“ oder „Summit-Hopper“ beleidigen und mit strengen Grenzkontrollen beziehungsweise Einreiseverboten bestrafen wollen, ist weder von Beruf Demonstrant noch vorbestraft noch interessiert daran, es nach Genua zu sein.

„Ich hab ziemlich Schiss vor Tränengas und Knüppeln und vor allem davor, in Gewahrsam genommen zu werden“, gesteht Monika nach der ersten Übung. Im Grunde genommen haben ihr schon die Papierknüppel gereicht. „Aber wenn es sein muss, dann nehme ich es in Kauf.“ Da redet keine coole Angeberin und schon gar keine Frau, die sich vorgenommen hat, mit zweifelhaften Protestformen als Heldin in die Geschichte einzugehen. „Natürlich bin ich auch gegen Kapitalismus und so“, sagt Monika, aber darauf, ihr Verhältnis zum Privateigentum von Produktionsmitteln zu definieren, will sie jetzt keine Zeit verschwenden. Das hat schon die Generation ihrer Eltern getan, ohne dass die Welt gerechter geworden wäre. Es gibt sehr konkrete Gründe, auf die Straße zu gehen: „Meine Freundin hat eine Erbkrankheit, aber die Krankenkasse weigert sich, die Präventivmedikamente zu zahlen.“ Eine klare Folge der Globalisierung, sagt Monika, bei der „acht Länder über den Rest der Welt entscheiden“, und die zu nichts führt als zu Unterdrückung und Ausbeutung von Ressourcen, Umwelt und Menschen. „Es kotzt mich an“, sagt Monika, „dass mich auf Flüchtlingsdemonstrationen immer mindestens 50 Leute anquatschen, ob ich sie nicht heiraten kann, weil das für sie die einzige Möglichkeit ist, eine Aufenthaltsgenehmigung zu kriegen.“ Sie schüttelt sich den rot gefärbten Pony aus den Augen, „ich will so nicht leben.“

Klar geworden ist Monika dies alles vor einem halben Jahr, als sie nach Berlin zum Studieren kam. „Vorher wohnte ich in einer kleinen Stadt, da gab es nichts, wo man sich engagieren konnte.“ Seither ist sie nach Gorleben gefahren, um bei minus zwei Grad zu zelten und sich von Polizisten aus dem Weg räumen zu lassen. Und wenn jetzt, ein paar Monate später, der Ort, an dem ihre Kritik an der Gesellschaft eine Chance hat, Gehör zu finden, zufällig Genua heißt, dann muss sie eben dorthin. Sicher, in Gorleben ging es um Atommüll und Castor, in Genua um Weltwirtschaft und Kredite. Mit Beliebigkeit aber, sagt Monika, hat das nichts zu tun. Hängt nicht vielmehr alles mit allem zusammen? Und hat nicht deswegen jeder das Recht, für seine ganz individuellen Interessen innerhalb der ganz großen Gemeinschaft zu mobilisieren?

„Das Sektierertum innerhalb der Linken ist vorbei“, sagt Sascha, der eben noch Monika wieder auf die Beine geholfen hat. Seit 1992 war er, wann immer es ging, auf den Gipfelprotesten in ganz Europa dabei. „Die antikapitalistische Bewegung hat eine Aufmerksamkeit wie seit 1968 nicht mehr.“ Erfolg macht süchtig, und mit jedem Mal, sagt Sascha, wird die Zahl der Anhänger größer. Kein Wunder: Mitmachen kann jeder. Beinahe jedenfalls. Allein aus Berlin werden Gruppen zusammen nach Genua aufbrechen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: viele Studenten wie Monika, Sascha, Uwe, Basti und die anderen, die selten einem Verein oder einer Initiative angehören. Alternde Umweltbewegte, die wissen, dass die große Zeit der Sitzblockaden vor AKWs vorbei ist und man sich nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen muss. Eher unauffällige Menschen wie Oliver, die sich als „radikale Linke“ outen und sodann sperrige Debatten um Welthandelsordnung und Weltgesundheitsabkommen mit Bemerkungen bereichern wie: „Niemand von uns hat was gegen Kiwis aus Australien, aber die Frage ist doch, wer die Spielregeln bestimmt.“

Autonome, die in den schwarzen Block wollen und sich in Faltblätter vertiefen, in denen steht, dass „lo non capisco“ „Ich verstehe nicht“ heißt und die Benutzung von Tampons zu vermeiden ist: „Im Falle einer Verhaftung könnte es sein, dass ihr sie nicht wechseln könnt.“ Gewerkschafter wie Dirk Linder von der IG Metall, der den Geist von Genua darin sieht, „die internationale Zusammenarbeit entlang der Produktionsketten weiterzuentwickeln“. Aber auch Altkommunisten wie der grauhaarige Dirk Schneider fassen sich ein Herz: Die Füße rutschen leicht in den Sandalen hin und her, wenn er klagt, dass er immerhin „schon 20 Jahre in Berlin demonstriert“ und trotzdem „in der ganzen Bewegung nicht sieht, wie der Kapitalismus besiegt werden kann“. Zumal sich zu den Gegnern der Globalisierung neuerdings auch Leute wie die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Lötzer zählen. „Und das“, Dirk Schneider bebt vor Wut, „obwohl im PDS-Parteiprogramm die unternehmerische Initiative gelobt wird, was eine kaschierte Form von Profitstreben des Kapitalismus ist“. Er darf ausreden. Unter Globalisierungsgegnern darf jeder ausreden; Transparenz und Toleranz lautet das Konzept, und vielleicht ist das ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der Bewegung.

Selten geworden sind die Momente, da die Presse von internen Besprechungen der Gipfelgegner ausgeschlossen wird. Allein aus taktischen Gründen, versteht sich: „Wir instrumentalisieren euch“, sagt Sascha und lacht. So viel Offenheit verwirrt. Auch und vor allem die Polizei: Im Internet hatte das Berliner Bündnis gegen den Weltwirtschaftsgipfel zum Aktionstraining für Genua aufgerufen – ursprünglich auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg, am Sonntag, pünktlich um zwölf. Die Polizei rückte mit mehreren Hundertschaften an, drohte mit Platzverweisen und damit, dass der traditionell zugekotete Mariannenplatz erstens eine „geschützte Grünfläche“ sei und man zweitens zivilen Ungehorsam nicht zu „unterstützen“ gewillt sei. Die vielen Worte wären nicht nötig gewesen, um die Gruppe zu verscheuchen. Mit dogmatischen Diskussionen um Bürgerrechte und öffentliche Plätze halten sich moderne Globalisierungsgegner nicht auf. Es gibt schließlich auch privates Übungsgelände. Und Wichtigeres. Uwe macht sich bereit: „No violeeeence!“

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