: Der vermeidbare Tod des Hotelgasts
Bei der Fahndung nach dem Mörder Zurwehme erschossen Polizisten einen harmlosen Touristen. Zwei Jahre nach seinem Tod hat die Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen aufgenommen. Erstmals geht es auch um die Verantwortung der Polizeichefs
von OTTO DIEDERICHS
Sie suchten den vierfachen Mörder Dieter Zurwehme und töteten einen harmlosen Touristen. Zwei Jahre nachdem zwei Polizisten den 62-Jährigen Rentner Friedhelm Beate im thüringischen Heldrungen erschossen, geht die juristische Auseinandersetzung um die Verantwortung für den tragischen Todesfall in die nächste Runde. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Erfurt wurden die Ermittlungen jetzt neben den beiden Todesschützen auch auf Beamte der Einsatzzentrale ausgedehnt.
Ein solcher Fall ist bisher einmalig und gewinnt damit eine Bedeutung, die weit über das eigentliche Verfahren hinausgehen könnte. Ein erstes Ermitlungsverfahren war im Dezember 1999 eingestellt worden.
Zur Vorgeschichte: Im gesamten Bundesgebiet fahndete die Polizei im Sommer 1999 mit Großaufgeboten nach dem vierfachen Mörder Dieter Zurwehme. Am 27. Juni 1999 stieg ein Mann, auf den die Beschreibung passte, in einem kleinen Hotel des Örtchens Heldrungen ab. Daraufhin benachrichtigte eine dort beschäftigte Frau die Polizei in Dessau. Diese leitete die Information an die zuständige Polizeidirektion Nordhausen weiter, die zwei Zivilbeamte losschickte, um den Hinweis zu überprüfen.
Der Hotelgast hatte sich an der Rezeption unter dem Namen Friedhelm Beate aus Köln eingetragen. Eine Nachfrage der Polizei in der Domstadt ergab, dass dort tatsächlich jemand unter diesem Namen ordnungsgemäß gemeldet war. Um die Identität des verdächtigen Hotelgasts zu überprüfen, baten die Beamten ihn gegen 23.20 Uhr unter einem Vorwand, die Tür zu öffnen. Schlaftrunken folgte der Rentner der Aufforderung – und schlug die Zimmertür erschrocken wieder zu, als zwei Unbekannte mit gezogener Waffe vor ihm standen. Sofort feuerten die Beamten. Anschließend forderten sie ein Spezialeinsatzkommando (SEK) an, weil sie davon ausgingen, der Mann habe sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Nachdem die SEK-Beamten die Zimmerüre gewaltsam geöffnet hatten, standen sie vor der Leiche Beates. Er war unmittelbar hinter der Tür tot zusammengebrochen. Ein Schuss hatte seine Brust durchschlagen, ein zweiter war direkt ins Herz gegangen. Das erste Ermittlungsverfahren gegen die Beamten wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung wurde von der Staatsanwaltschaft im Dezember 1999 eingestellt. Ein Gutachten hatte den Polizisten eine „starke Stresssituation“ bescheinigt. Folglich hätten die Schüsse „nicht auf einer bewussten Handlung“ beruht. Der Beamte, der Friedhelm Beate ins Herz schoss, habe „im Grenzbereich seiner Informationsverarbeitung“ operiert. Sein Kollege sei durch diese Schüsse dann einem „unbewussten Mitzieheffekt unterlegen“.
Mit diesen Erklärungen wollte sich die Witwe des Erschossenen jedoch nicht abfinden. „Es kann nicht sein, dass der Staat diesen Fall durch seine eigenen Organe einfach selbst entscheidet“, sagt ihr Anwalt Carl Gustav Cremer. Cremer ließ ein Gegengutachten erstellen und erreichte im August letzten Jahres die Wiederaufnahme des Verfahrens. Zugleich erweiterte er den Strafantrag auf die Beamten der Einsatzleitzentrale, denen er schwere Versäumnisse vorwirft. So hätte mit der Überprüfung und möglichen Festnahme eines mutmaßlichen Gewalttäters gleich ein SEK beauftragt werden müssen, deren Beamte für solche Situationen besonders ausgebildet sind. Dies, so Cremer, „war der entscheidende Fehler“. Zudem hätten es die Beamten versäumt, bei ihrem Anruf bei der Ehefrau Beates nach dem derzeitigen Aufenthalt ihres Mannes zu fragen. In diesem Falle hätten sie erfahren, dass Friedhelm Beate sich auf einer Wanderung durch Thüringen befand.
Eine derartige Strafanzeige gegen Beamte einer polizeilichen Einsatzleitzentrale ist in der Bundesrepublik ein Novum. Wird sie dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt, wäre damit ein Präzedenzfall geschaffen, der unanhängig vom Ausgang des Verfahrens künftig Auswirkungen auf das gesamte polizeiliche Einsatzhandeln haben würde. Erstmals würde dann nämlich darüber entschieden, inwieweit Polizeibeamte für taktische Fehler im Vorfeld eines Geschehens juristisch zur Verantwortung gezogen werden können, wenn diese für den weiteren Verlauf mit entscheidend sind. Eine erneute Einstellung der staatsanwaltlichen Ermittlungen will Cremer nicht hinnehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen