grundrechte für genua: Genau lesen, vollständig anwenden
Seit das Passgesetz der Bundesrepublik im Jahr 2000 geändert wurde, um deutschen Hooligans den Zugang zu ausländischen Fußballstadien zu versperren, gab es Befürchtungen: Würden die deutschen Behörden der Versuchung widerstehen, gezielte Ausreiseverbote auch anlässlich politischer Demonstrationen im Ausland auszusprechen? Prompt hat sich nun die Sorge der damaligen Kritiker bestätigt.
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Einer Reihe von Globalisierungsgegnern wird jetzt die Reise nach Genua verwehrt, sie unterliegen noch dazu täglicher Meldepflicht. Das Berliner Oberverwaltungsgericht (OVG) hat diese Verbote und Auflagen bestätigt. Darüber hinaus läuft an der bayrischen Grenze eine Schleierfahndung nach Personen, die in der seit 1992 geführten Landfriedensbruch-Kartei des BKA aufgelistet werden.
Das geänderte Passgesetz greift im Fall der mit Reiseverbot belegten Globalisierungsgegner schwerwiegend in das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit ein. Das gerade unterscheidet die „Genua-Fälle“ von den „Hooligan-Fällen“. Ein solcher Eingriff wäre nur gerechtfertigt, wenn „hochwertige Rechtsgüter“ gefährdet sind. Also eine Güterabwägung. Um ein Verbot zu rechtfertigen, reichen polizeiliche Ermittlungen gegen mutmaßliche Gewalttäter nicht aus, noch dazu, wenn sie vage sind und zeitlich weit zurückliegen – so wie in den Fällen der verhinderten Genua-Reisenden. Gefordert für die „Gefährdung“ wären rechtskräftige Urteile gegen mutmaßliche, künftige Gewalttäter plus jüngster sachlich abgesicherter Verhaltensprognosen. Wobei noch zu berücksichtigen ist, dass sich hinter so grimmigen Tatvorwürfen wie Nötigung oder Landfriedensbruch oft genug nicht mehr verbirgt als ziviler Ungehorsam, zu dem sich auch friedfertige Gruppen wie „Attac“ bekennen. Dem Berliner OVG genügte jetzt für das Reiseverbot „die Konfrontation (des vom Verbot Betroffenen) mit schwerwiegenden Vorwürfen“.
Die von Berlins Innensenator geäußerte Ansicht, es gäbe kein Grundrecht auf Ausreise, hat nicht nur eine fatale Wahlverwandtschaft mit der Praxis eines anderen, glücklicherweise untergegangenen deutschen Staates. Solche Auffassungen sind auch mit der europäischen Zukunft unvereinbar. Schließlich wurde in Nizza eine Europäische Grundrechtscharta auf den Weg gebracht, die EU-weit Freizügigkeit und Demonstrationsfreiheit einschließt. Schon jetzt ein Interpretationsrahmen, für den vier Worte gelten: Genau lesen, vollständig anwenden!
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