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Im Kreis um die Welt

Pfad der wiederangesiedelten Wölfe: Eine verwirrende Vorbildsuche am Tiergehege Friedrichsfelde

von HELMUT HÖGE

Die Bild-Zeitung kam uns mal wieder zuvor: „Exklusiv“ brachte sie „die ersten Wolf-Fotos aus dem verborgenen Wildgehege in der Schorfheide“. Als wir dort mit einem Fotograf antanzten, war von Wölfen weit und breit nichts zu sehen. Man darf als Besucher sowieso nur durch ein Fernrohr zusehen, wie Naum und Nina laut Bild in ihrem 100.000-Quadratmeter-Gehege herum-„turteln“. In der Schlagzeile hieß es: „Der traurige Dreibein-Wolf hat sein Glück gefunden“.

Der Springerjournalist Schmidt recherchierte dazu nahezu komplett Naums Leidensgeschichte: Erst in Polen geboren, dann von einem im Westen geklauten Auto angefahren, daraufhin „als Behinderter“ von seinem Rudel verstoßen, im Kugelhagel der Grenzer über die Oder in den Westen geflüchtet, von der erstbesten märkischen Schäferhündin Xena gleich betrogen (wie ein „Gentest“ bei seinen Welpen später ergab), sodann von Jägern mit Betäubungsgewehr eingefangen, zu einem in Gefangenschaft geborenen Wolfsrudel im Tierpark Eberswalde verfrachtet, das ihn ebenfalls ausschloss, schließlich „in ein fensterloses Verlies eingesperrt“ – bis er sein „neues Zuhause im Wildpark Schorfheide“ beziehen konnte. Zusammen mit der Wölfin Nina, einer fast handzahmen Russin, was den Polen wahrscheinlich auch nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hinriss. Der Bild-Reporter riet ihm: „Hab Geduld, Naum“ – und meinte damit das Schwängern seiner neuen „Partnerin“.

Jagen, fischen, reißen

Das interessanteste an diesem menschelnden Machwerk ist der 180-Grad-Schwenk, den der Autor damit vollzieht: Bei Naums vermeintlichen ersten in Deutschland geborenen Nachkommen hatte seine reaktionäre Zeitung noch nahe gelegt, die „Mischlinge“ sofort zu töten, da sie wegen ihres wilden Vaters unzähmbar seien. Nun präsentierte Bild ihn jedoch als „Rarität und Rätsel“ und erklärte dazu umständlich, wie nützlich Wölfe an sich und auch für Brandenburg seien: Sie vernichten vor allem „lahmende und kranke Tiere“. Im Gegensatz etwa zu den (mehrheitlich arbeitslosen) Brandenburgern, die jetzt sogar schon kerngesunde „märkische Edelfische“ aus den Seen dort nächtens klauen und dabei den Fischern Schäden von über 1 Million Mark zufügen, wie Bild gleich neben dem Wolfs-Artikel vermeldete.

Weil wir sie in ihrem neuen Wildgehege wie gesagt nicht entdecken konnten, gingen wir ein paar Tage später zur Beobachtung der Wölfe in den übersichtlicheren Zwingern der zwei Berliner Tierparke über. In Friedrichsfelde trafen wir den Wolfsforscher Jens. Er meinte zu dem Bild-Artikel bloß, das sei rot-grüne Junkerideologie, in Wirklichkeit ginge es bei der Auswilderung von Wölfen in Brandenburg um knallharte ökonomische Interessen. Das sehe man an der gerade in der Schweiz veröffentlichten Kalkulation für den „Wolfs-Management-Plan“, wie er ähnlich auch für die Mark gelten wird: 1 Wolf reißt 20 Schafe à 200 Mark im Jahr, das macht bei 20 Wölfen – mehr seien zunächst nicht vorgesehen – 80.000 Mark im Jahr, die man den Schäfern als Entschädigung zahlen müsse.

Hinzu käme noch deren Beschiss, indem sie etwa heimlich Schafe an türkische Privatleute verkaufen. Dies mache 17,8 Prozent aus, so dass ein veritables, wiederangesiedeltes Wolfsrudel den Steuerzahler alles in allem etwa 100.000 Mark jährlich kostet. In Brandenburg gäbe es somit und sowieso quasi nur noch die Alternative: „rechte Werwolfs-Banden oder wilde Wolfsrudel?“

Gehege und Geschichte

Das brachte uns wieder auf die fast kahlen Wölfe vor uns im Tierparkgehege zurück, die lauernd einen genau abgesteckten Parcours abliefen, um fit zu bleiben. Er sah aus wie ein Wolfspfad, nur eben im Kreis und en minature – ähnlich den Verläufen von Spielzeugeisenbahn-Schienen. Die Wölfe sahen uns bei ihren Wanderungen durch das Gehege nicht an – sie blickten quasi durch uns hindurch! „Die sind ganz woanders“, bemerkte ich. „Nein, so klug sind sie nun auch wieder nicht – leider“, erwiderte der Wolfsforscher und erzählte mir die Geschichte einer glücklicheren Gefangenen-Intelligenz: Als man den Rüstungsminister Albert Speer als Nazi-Oberwolf zu 20 Jahren Haft im Spandauer Gefängnis verknackte, gelang es diesem, den riesigen Garten samt Park unter seine Kontrolle zu bringen. Dort konnte er fortan im Kreis spazieren gehen. Rudolf Heß riet ihm, nach jeder Runde eine Erbse von der linken Tasche in die rechte zu stecken. So könne er abends die Anzahl seiner täglichen Runden in Kilometer umrechnen. Speer entwickelte diese Idee dahin gehend weiter, dass er sich vorstellte, er würde von Spandau aus – über seine Heimatstadt Heidelberg nach Italien, Ägypten, Indien und China gehen und von da aus weiter durch Sibirien und Alaska – bis nach Kalifornien, wo sein alter Freund Wernher von Braun gerade freundliche Aufnahme gefunden hatte. Gesagt – getan!

Um sich dabei eine rechte Vorstellung von den Menschen und Landschaften machen zu können, durch die ihn sein Monstermarsch in dem 6.000 Quadratmeter großen Gefängnisgarten führen würde, besorgte er sich jede Menge Bücher darüber – von seiner Familie, aus der Gefängnisbibliothek – und von freundlichen Wärtern. Ein Amerikaner lieh ihm ein Dutzend Bücher über Alaska. Speers Tagesrekord belief sich auf 24,7 Kilometer, und sein Stundendurchschnitt betrug 5,8 Kilometer.

Über sein Vorankommen führte er Tagebuch. So notierte er am 19. 6. 1955: „Bei schönster Sonne ... habe ich die letzten Kilometer nach Wien zurückgelegt und vom Kahlenberge aus die Stadt vor mir liegen sehen“. Anfang August heißt es: „Flimmernde Hitze über der Pußta“. Heiligabend notiert Speer: „Nach der Verzweiflung der letzten Wochen habe ich die Wanderung wieder aufgenommen. Heute früh verließ ich Europa und ging über die Schiffsbrücke nach Asien.“ Als er sich auf der berühmten Straße nach Mandalay befindet, plant er spontan einen Abstecher zu den 2.000 Pagoden von Pagan ... Hier unterbrach ich den Wolfsforscher: „Das ist ja witzig, genau dasselbe ist mir 1989 – auf dem Weg von Rangun nach Mandalay – auch passiert ...“

„Das hättest du von Peking ebenfalls behaupten können“, griff Jens seinen Faden wieder auf, „Speer bemerkte nämlich über die chinesische Hauptstadt 1959 nur: ‚Als ich zum kaiserlichen Palast kam, fand auf dem großen Platz gerade irgendeine Kundgebung statt.‘ “ Und ein Jahr später macht ihm wie so vielen Westlern die russische Wege- und Endlosigkeit zu schaffen. „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft“, hat der Slawist Schlögel einmal gescherzt. Speer dagegen seufzte in seinem Tagebuch: „Seit über einem Jahr wandere ich nun schon von Wladiwostok aus nordwärts. Endlose Lärchen- und Fichtenwälder, in den Höhen krumm gewachsene Steinbirken.“

Aber Weihnachten 1964 befand Speer sich endlich kurz vor Kalifornien: „Heute habe ich Seattle an der Westküste Amerikas passiert. In sechzig Tagen habe ich bei Wind und Wetter 560 Kilometer zurückgelegt“, schreibt er stolz. Im Jahr darauf schießt er sogar noch weiter – über die US-Grenze nach Mexiko hinaus, wo er immer wieder kleine Dorfkirchen besucht, u. a. die Kirche „Unserer Jungfrau von Guadeloupe“, in deren Stammkloster in Spanien er 1941 einmal Ehrengast war. Kurz danach ist seine „Weltwanderung im Kreis“ zu Ende – am 30.September 1966 wird Albert Speer entlassen: genau „bei Kilometer 31.936“. Rückblickend meinte er: „Wahrscheinlich war es die größte sportliche Leistung meines Lebens. Und zugleich der einzig greifbare Ertrag der Spandauer Jahre.“

Ich war beeindruckt, kam aber nicht zu meinem Kommentar, denn Jens wurde von einigen jungen Leuten begrüßt, mit denen er sich anscheinend schon öfter vor dem Friedrichsfelder Wolfsgehege getroffen hatte. „Was gibt’s Neues?“, fragte er sie. „Das fragst du uns?“, erwiderte einer der drei, fing dann aber doch an aufzuzählen: Erstens wurde die Tochter eines amerikanischen Tierschützers an der Bushaltestelle von einem Wolf gerettet, berichtete dpa - und alle neoliberalen Kapital-Medien haben es sofort nachgedruckt. Zweitens wurde das Kind eines NDR-Redakteurs aus dessen brennendem Haus in der Toskana gerettet, dies blieb jedoch eine Hamburger Lokalnachricht. Drittens hat das auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz bei Hoyerswerda lebende kleine Wolfsrudel Nachwuchs bekommen, das sächsische Umweltministerium spricht von einer „Sensation im westlichen Mitteleuropa“. Viertens hat der Anarchopoet Bert Papenfuß in der Zeitschrift telegraph der früheren Umweltbibliothek einen schönen Text über den „Mattenwolf“ veröffentlicht, der „stand hält, sich selbst erklärt und weiter fließt“. Gemeint ist damit ein Rebell, dessen Unbeugsamkeit die eigene Asozialität wieder ins Gegenteil verkehrt.

Rebell gegen das Rudel

Es ist dies wohl ein Versuch, das Wölfische nicht völlig den Rechten zu überlassen. Dazu hat gerade – fünftens – der Antisemitismusforscher Benz im Rahmen einer Ringvorlesung an der Humboldt-Universität Näheres ausgeführt. Es ging ihm um die „Heldenkonzepte rechtsextremer Männer“. Wobei das Selbstbild dieser Leute sich heute nicht mehr am Symbol des Löwen orientiere, sondern „an dem des Wolfes, der durch feindliches Gelände marodiere, einsam oder im Rudel, allzeit bereit zu Mord und Totschlag“. Dies geschähe quasi aus Bescheidenheit, denn die Löwen, das sind für die Neonazis die alten Kämpfer – Rudolf Heß oder Leo Schlageter, aber auch etliche Wehrmachtsführer nach ihrem Einfall in Russland: der „Löwe von Kalinin“ etwa. So einen bräuchte es auch jetzt wieder, um ihre Bewegung zu vereinen, meinen sie.

Sechstens lobte die FAZ gerade einen neuen ZDF-Film über die Tierwelt der Alpen, wobei sie zu dem schon klassischen Schlesiertreffen-Schluss kam: „Das Heimatrecht des Wolfes zu akzeptieren, ist die größte Herausforderung für den Naturschutz des dritten Jahrtausends im Reiche des Steinadlers!“ Siebtens und letztens hatten die Polarwölfe im Westberliner Zoo im Mai Nachwuchs bekommen – und diese haben nun gerade ihre künstliche Höhle verlassen ... „Warum erfahre ich das erst jetzt?“, fragte der Wolfsforscher, „was hängen wir hier überhaupt noch rum – bei diesen traurigen Wandergesellen. Auf gehts!“ Und so geschah es dann auch.

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