Jongleur der Kulte

■ Der 22-jährige Alexander-Kenneth Nagel hat sich für den Deutschen Studienpreis beworben. Er sucht die Antwort auf die Frage „Wieviel Körper braucht der Mensch?“

Kybele und Attis waren ein Liebespaar der Antike. Attis verliebt sich jedoch in eine Wassernymphe, Kybele straft ihn dafür mit Wahnsinn – „der ist dann ausgeflippt, hat sich entmannt und ist gestorben.“ Worauf die Priester der todtraurigen Göttin Kybele fortan nach dem Prinzip funktionierten: „Wir fügen uns Schmerzen zu, was das Zeug hält.“ Der Kult um Weingott Bacchus lässt sich ähnlich beschreiben: „Wir saufen, was das Zeug hält.“

Alexander-Kenneth Nagel bringt die Dinge auf den Punkt. Doch so simpel-pointierte Sätze benutzt er nur, wenn er spricht. Wenn er schreibt, wird's kompliziert. Der Mann ist 22 Jahre alt, Student der Religionswissenschaften an der Bremer Uni, verlobt, Fan alter Musik und Bewerber um den Deutschen Studienpreis. Nicht mit so ordinären Vokabeln wie „ausgeflippt“ und „saufen“, sondern mit einer langen Abhandlung, die sich nicht unbedingt als Bettlektüre eignet. Darin steht Alexanders Antwort auf die Frage „Wieviel Körper braucht der Mensch“, gestellt von der Körber-Stiftung, Ausloberin des mit mehreren tausend Euro dotierten Deutschen Studienpreises. Irgendwann in den nächsten Monaten erfährt er, ob sein Werk die Jury – darunter WissenschaftlerInnen aller möglichen Disziplinen und JournalistInnen – beeindruckt hat.

Zurück zu Kybele und Bacchus. Die sind bei Student Nagel wichtige Figuren. Sie stehen dafür, dass Glaube in Fleisch und Blut – im Saufen und Schmerzenzufügen – Gestalt annimmt. Und in den Religionen, in denen es nur noch einen, nicht mehr körperlichen, dafür umso mächtigeren Gott gibt, wird der menschliche Körper und das, was sich mit ihm erfahren lässt, zunehmend verdrängt – „die Rolle des Körpers wird eingenommen vom religiösen Kollektiv an sich.“

Nagels Problem: „Es gibt keinen Körperdiskurs“, sagt der Autor über sein Fach, ergo „kann ich keine Antworten geben, ich kann nur Fragen aufwerfen.“ So ist seine Abhandlung von den Anfängen der Menschheit bis in die Cyberwelt zumindest unerschrocken. Und nicht immer leicht zu lesen, weil einerseits die zentrale These fehlt, andererseits der Nachwuchswissenschaftler mit komplexen Begriffen jongliert wie Artisten mit Feuerkeulen. Manchmal fällt auch eine runter.

Alexander-Kenneth Nagel aber schließt mit einem überaus charmanten, weil so banal wie hinterfragbar erscheinendem Fazit. Im Laufe seiner Forschung hat er einen jüdischen, einen christlichen und einen muslimischen Geistlichen interviewt. Allen dreien stellt er die Frage: „Wieviel Körper braucht der Mensch?“. „Der Mensch braucht soviel Körper, damit er leben kann“, antwortet der Jude. „Offenbar 'ne ganze Menge“, sagt der Christ. „Den ganzen Körper“, erklärt der Muslim. Dem letzteren, so endet Nagel nach einer Tour de Force durch die Religions-, Kultur- und Körpergeschichte, „möchte ich mich anschließen.“

Alexanders Vater kommt aus Bangladesh. Da, erzählt der Sohn, habe man Informatik, Natur- oder Ingenieurswissenschaften zu studieren, alles andere gelte wenig. Und so sei sein Vater wenig begeistert gewesen von Alexanders geis-teswissenschaftlichen Anwandlungen. Ursprünglich hat dieser Jura studiert, „sehr engagiert“. Man dürfe sich nicht darüber täuschen, dass dieses Studium eine berufsqualifizierende Ausbildung sei. „Ich habe mich getäuscht.“ Nagel war schnell „enttäuscht von einem gewissen Mangel an akademischem Anspruch.“ Ein Aufsatz über talmudisches Recht brachte ihn zu den Religionswissenschaften. Dass er mal Professor werde, das sage man ihm zwar oft, aber „ein solider Posten im Mittelbau ist eine realistische Perspektive“. Oder ganz etwas anderes. Vielleicht möchte er mal in einer Werbeagentur hospitieren. Oder den Journalismus entdecken.

Dass das eine wie das andere mit sehr viel simpleren Worten auskommen muss als Alexander-Kenneth Nagel, das sieht er selbst auch so. Aber im Moment geht es nicht anders: „Ich kann die Sachverhalte nicht anders denken als in den komplizierten Begriffen. Entweder so kompliziert oder gar nicht.“ sgi