„Es war Rache“

In der Nacht zum Sonntag stürmte die italienische Polizei die Zentrale der G-8-Kritiker

aus Genua HEIKE HAARHOFF

Die SOS-Mail geht um kurz nach Mitternacht ein. „Bitte helft uns. Das Genoa Social Forum wird gestürmt, die Polizei ist schon im Haus.“ Wenige Minuten später bricht das Telefonnetz in der Zentrale der Dachorganisation der G-8-Kritiker und ihrem Pressedienst Indymedia zusammen.

Es ist Sonntag, 0.25 Uhr. Sirenengeheul, Blaulichter, Hubschrauberlärm und die anrückende Polizeiverstärkung weisen den Weg, und doch kommen die Rettungswagen nur schwer durch. Die Via Batisti im östlichen Stadtzentrum von Genua ist eine schmale Straße, zu beiden Seiten dicht bebaut. Ein Leichtes, sie abzuriegeln. Selbst Fußgänger kommen nur unter Mühen durch. Mannschaftswagen versperren den Zugang. Die Krankenwagen müssen dahinter parken. Die Carabinieri stehen in Dreierreihen à 40 Mann auf der Fahrbahn, helmgeschützte Gesichter, Schlagstöcke und Waffen im Anschlag dem Genoa Social Forum zugewandt, durch das 15 bis 20 ihrer Kollegen bereits mit erhobenen Knüppeln gezogen sind.

„Sie kamen über das Dach“, berichtet ein Mitarbeiter des Sozialforums. „Wir haben versucht, uns in der Gerätekammer zu verbarrikadieren, aber sie haben uns gefunden. Es waren vielleicht 15 oder 20 mit Helmen und Stöcken, aber ohne Gewehr. Wir mussten einzeln aus der Kammer heraustreten und uns dann im Turnsaal hinlegen. Sie haben dann das Haus durchsucht. Verletzt wurde niemand. Das ganze dauerte vielleicht eine halbe Stunde.“

Schlagstöcke und Fußtritte

Jetzt wüten sie in der gegenüberliegenden Schule. Einige NGOs haben dort während des Weltwirtschaftgipfels ihren Stützpunkt, mehrere Dutzend Globalisierungskritiker haben in den unteren Etagen ihre Isomatten ausgerollt. Viele von ihnen werden im Schlaf erwischt. Schreie dringen aus dem Gebäude. Michael Gieser treffen die Schlagstöcke und Fußtritte an Kopf, Lippe und Unterarm. Dann gelingt dem Luxemburger, der in Brüssel für die NGO Quinoa tätig ist, die Flucht über die Straße in das Sozialzentrum. „Sie treten auf die Leute ein, das Blut rinnt über die ganze Treppe.“

Endlich können die Sanitäter in die Schule. Von der Veranda des Sozialforums beobachten etwa 200 Menschen, wie Bahre um Bahre herausgetragen wird. Verletzte mit Wunden an Kopf, Armen und Rücken liegen darauf, andere können sich noch auf den eigenen Beinen bis zu den Krankenwagen schleppen. „Mörder, Mörder“, brüllt die Menge, „die Welt sieht euch zu.“ Als die Sanitäter zwei Bahren mit Bodybags aus der Schule hinaustragen, droht die Situation zu eskalieren. „Es sind keine Toten, nur beschlagnahmte Gegenstände“, versucht einer die Menge zu beruhigen, und: „Keine Gewalt!“ Eine erste Flasche geht auf der Veranda zu Bruch. „Aufhören“, brüllt einer. „Die Bullen sind zu viele!“ Die Sprechchöre werden immer lauter: „We are peaceful, what are you?!“

Wie durch ein Wunder gelingt es, die drohende Straßenschlacht zu verhindern. Gegen 2.30 Uhr zieht die Polizei ab. Sie hinterlässt „57 Verletzte, die wir ins Krankenhaus gebracht haben“, sagt der Sanitäter Paolo Cremonesi, ein verwüstetes Gebäude und die Gewissheit, dass die Behauptung der Polizei, sie habe in das Schulgebäude eindringen müssen, um Molotowcocktails, Eisenlatten und Angriffspläne sicherzustellen, nur ein Vorwand war.

„Hier soll Rache genommen werden“, sagt ein Mitarbeiter des Sozialforums. Rache für drei Tage sinnlose Gewalt und Gegengewalt um einen Weltwirtschaftsgipfel, der die pittoreske Hafenstadt Genua in ein bürgerkriegsähnliches Schlachtfeld verwandelt hat. Rache für ein gutes Dutzend geplünderte Banken, Rache für unzählige ausgebrannte Autos, Rache für Wurfgeschosse, Gasraketen, Pflastersteine, Rache für den „entstandenen Millionenschaden“, den der Bürgermeister jetzt vom italienischen Staat beglichen haben will, und vor allem: Rache für ihren Polizistenkollegen, der am Freitagabend auf der Piazza Gaetano Alimonda aus dem zerbrochenen Rückfenster seines Polizeijeeps auf den 23-jährigen Demonstranten Carlo Giuliani zielte.

Klare Notwehr, sagt die Polizei. Vermutlich Totschlag, sagt die Staatsanwaltschaft. Faschistischer Mord, sagen Menschen, die auf den Fleck, auf dem Carlo Giuliani starb, Blumen und Kerzen hingestellt und das Straßenschild mit „Piazza Carlo Giuliani“ übermalt haben. Fest steht, dass der Demonstrant Carlo Giuliani durch eine Polizeikugel in die linke Wange starb und anschließend – da war er nach Angaben der Gerichtsmediziner schon tot – von dem Polizeiwagen überrollt wurde.

Fernsehaufnahmen sowie Bilder eines Fotografen der Nachrichtenagentur Reuters dokumentieren, wie Carlo Giuliani sich in einer unübersichtlichen Menge Steine werfender Demonstranten und Tränengas sprühender Polizisten nach einem Feuerlöscher bückt und diesen mit beiden Händen hochhebt. Wenige Meter vor ihm steht der Polizeijeep, direkt dahinter eine Mauer. Ausweichen scheint praktisch unmöglich. Carlo Giuliani macht Anstalten, den Feuerlöscher in Richtung des kaputten Jeepfensters zu schleudern. Darin hockt der Polizist, die gezogene Waffe auf Carlo Giulianis Kopf gerichtet. Die beiden können sich fast in die Augen sehen.

Aus anderen Ecken fliegen Steine und Brandsätze auf den Jeep zu. Der Polizist zielt. Dass danach der Krieg um Genua kaum noch aufzuhalten sein würde, war eine berechtigte Befürchtung. Die Frage ist jedoch, weshalb die Gegengewalt der Polizei stets und bevorzugt die große Mehrheit der gewaltlosen Protestierer trifft – nicht nur in der Nacht zum Sonntag in den Räumen des Sozialforums.

Auch die Demonstration am Samstagnachmittag, zu der sich rund 100.000 Menschen versammelt haben, endet vielerorts im unnötigen Chaos: Anstatt den Protestzug schützend zu begleiten, überlässt die Polizei die Demonstrierenden sich selbst. Niemand ist da, als ein paar Vermummte pöbeln, rempeln, Schlägereien anzetteln. Niemand schreitet ein, als wenige Dutzend Randalierer aus dem so genannten „Schwarzen Block“ plötzlich die Demo von vorn stürmen und die Straße nahe der Piazza Kennedy in Brand stecken.

Die Polizei wartet ab, bis das Chaos perfekt ist: Mehr als 90 Minuten lang steht der Platz in Flammen, werden Menschen, die eben noch Transparente hochhielten und Lieder sangen, Tränengasattacken ausgesetzt. Ihre Demonstration wird brutal auseinander gespalten, Kundgebungen können nicht mehr stattfinden. 24.000 in Genua versammelte Ordnungshüter stehen 500 Gewalttätern und 100.000 Friedfertigen gegenüber und bekommen die Situation nicht in den Griff.

Edmund Stoiber zeigt Mitgefühl

Schwarzer Rauch steigt aus Autos, Banken, Geschäften auf, die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind überfordert, und nebenan am Strand baden bei hochsommerlichen Temperaturen Menschen. Und als wäre das nicht genug Surrealität, erreicht wenige hundert Meter entfernt auf dem hermetisch abgeriegelten Gipfelgelände die bei mediterranen Musikklängen speisenden Vertreter der mächtigsten Industrienationen der Welt das Mitgefühl des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU). Der findet es unwürdig, dass „sich die Staatsmänner förmlich verkriechen müssen vor der Gewalt“.

Dass diese Gewalt keineswegs vom Volk ausgeht, sondern gezielt von wenigen hundert Störern, die man tatenlos gewähren lässt, wissen in Genua alle: „Wir haben die Schnauze voll von dem Schwarzen Block“, schimpft eine Genueserin, die aus ihrer Wohnung im ersten Stock an der Piazza Manin eine Wasserflasche herunterreicht. Unten sitzt eine Frau mit tränengasgeröteten Augen und Platzwunde am Kopf und weint.

In den Weg stellen wollte sie sich, als der Schwarze Block, getrieben von der Polizei, an der Piazza vorbei und auf eine Ausfallstraße rannte. „Hört auf mit dieser sinnlosen Gewalt“, schreit sie ihnen entgegen und hält ihre weiß bemalten Hände hoch. Der Schwarze Block weicht in eine andere Seitengasse aus. Als die Polizei ankommt, sind die meisten längst weg, und auf der Piazza Manin noch etwa hundert Menschen, die mit Luftballons und Friedenstauben auf kleinen Fahnen für eine gerechtere Welt demonstrieren. Tränengassalven zielen auf den Platz. Gebrüll, Husten, Schreie. Die Luft ist zum Ersticken. Ein schwarz gekleideter Autonomer dreht sich um, wirft der Polizei einen Brandsatz vor die Füße. Sie knüppeln ihn nieder, treten ihn zu viert, als er längst am Boden liegt. Dann entdecken sie die Frau mit den weiß bemalten Händen.