: Variationen zu Goldberg
Über das Leben der Juden in Deutschland wissen wir wenig. Hans Ulrich Dillmann bietet eine anschauliche Einführung
Gott sei Dank, einmal nicht nur der Holocaust! Dass die deutsch-jüdische Geschichte aus mehr als dem Massenmord besteht, mag sich herumgesprochen haben. Über das Leben der Juden in Deutschland ist jedoch heute genauso wenig bekannt wie 1913: „Ist es denn erhört, . . . dass die Juden mitten unter anderen Völkern leben, dass es aber über ihr Leben, das ganz offen zu Tage liegt und sich gar nicht verbirgt, trotzdem nur Gerüchte gibt?“ Mit diesem historischen Zitat beginnt Hans Ulrich Dillmann seinen kleinen Band „Jüdisches Leben nach 1945“.
Die Juden in Deutschland waren also schon vor knapp 100 Jahren eine Gruppe, über die zu wenig bekannt war – und daran hat sich bis heute der trotz auffälligen Medienpräsenz ihrer Vertreter wenig geändert. Zu lesen gibt es über deren Alltag und Glauben wenig. Das Buch Dillmanns ist deshalb so etwas wie ein Glücksfall – und jedem zu empfehlen, der die Juden nicht nur als Opfer der Nationalsozialisten wahrnehmen will.
Die erste Freude beim Aufblättern des nur knapp 100 Seiten starken Werkes verfliegt jedoch ziemlich schnell. Irgendjemand im Verlag muss nämlich dem Autor aufgeschwätzt haben, zunächst auf 39 Seiten durch die 4.000-jährige Geschichte des Judentums seit Abraham zu galoppieren – ein Projekt, bei dem man nur scheitern kann.
Da werden, um nur ein paar Beispiele für offenkundige Auslassungen oder Fehler zu nennen, König David und die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus schlicht nicht erwähnt oder das „Ermächtigungsgesetz“ Hitlers und die Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ gleichgesetzt. Das Buch wurde, so scheint es, bevor das Lektorat es zu lesen bekam, schnell auf den Markt geworfen.
Diese Schattenseiten des Werkes sind auch deshalb so bedauerlich, da es in ihm zugleich viel Licht gibt: Sobald das Buch bei seinem eigentlichen Thema, dem jüdischen Leben nach 1945, ankommt, gewinnt der Autor an Souveränität. Vor allem über die Nachkriegsjahrzehnte der wenigen Juden, die in Deutschland geblieben sind, erfährt man viel Neues. Die Stimmungen dieser Holocaust-Überlebenden und ihre Probleme in den beiden deutschen Staaten sind flüssig und schlüssig beschrieben.
Passend sind in der Regel auch die Zitate und illustrativ die statistischen Daten, die die Ränder des Buches füllen. Etliche Informationen wären zweifellos ohne lange Recherche so nicht zu bekommen. Hätte sich der Autor doch auf diese Zusätze verlassen und sie auf Kosten der Anfangskapitel ausgebaut!
Dillmanns kluge Gedanken zu den Schwierigkeiten des jüdischen Lebens und der Identitätssuche im wiedervereinigten Deutschland lohnen ein aufmerksames Studium – gerade, weil ihm hier ein paar leicht bissige Bonmots gelingen: „Keine Gedenkstunde, die nicht der Klarinettist Giora Feidman musikalisch einleitet oder ausklingen lässt.“ Oder: „Was unterscheidet jüdische Raver in einer Münchener Disco von ihren türkischen Mittänzern?“ Auch der Überblick über jüdische Riten und Feste, das Glossar zu einschlägigen Begriffen und nicht zuletzt die Adressen- und Literaturverweise gehören zu den Stärken des Buches.
Dillmanns Band ist also trotz seiner offenkundigen Schwächen zu empfehlen. Denn es liefert auf knappstem Raum eine Fülle wichtiger Informationen – und nicht zuletzt einen guten jüdischen Witz, der am Ende des Buches zitiert wird:
„Guten Tag, mein Name ist Goldberg.“
„Ah, sind Sie Jude?“
„Was fällt Ihnen ein! Ich bin Deutscher, genauso wie Sie.“
„Und fühlen Sie sich verantwortlich für das, was die Nazis im Dritten Reich getan haben?“
„Sind Sie verrückt? Ich bin doch Jude.“ PHILIPP GESSLER
Hans Ulrich Dillmann: „Jüdisches Leben nach 1945“. Rotbuch Verlag, Hamburg 2001, 96 Seiten, 16,90 DM (8,60 €)
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