: Wenn die Datenbank verrutscht
Voll im Trend, aber voll daneben: Egon Ludwigs „Lexikon lateinamerikanischer Musik“ ist eine Fleißarbeit, die an ihrer Materialfülle leidet, vor Ungenauigkeiten strotzt – und sozialgeschichtliche Zusammenhänge ausblendet
Vor dem Buena Vista Social Club wussten allenfalls Eingeweihte, dass das Wort „Son“ keine Zigarrenmarke bezeichnet, sondern das traditionelle Tanzlied Kubas. Inzwischen gehört der kubanische Son fast schon zum Lifestyle der deutschen Mittelschicht.
Ähnlich verhält es sich mit dem Tango, der seit zehn Jahren vor allem außerhalb Argentiniens eine Renaissance erlebt. Zwar wurden Rumba, Samba und Tango hier zu Lande bereits in den Zwanziger- und Fünfzigerjahren gefeiert. Doch nun macht sich der aktuelle Zeitgeist daran, die Musik Lateinamerikas in ihrer ungezähmten Ursprünglichkeit zu entdecken und sie aus dem Korsett bürgerlicher Tanzsäle zu befreien.
Erstmals ist jetzt auch ein deutschsprachiges Lexikon erschienen, das die lateinamerikanische Volks- und Populärmusik in ihrer ganzen Bandbreite dokumentieren will. Egon Ludwig, der am Lateinamerika-Institut der Universität Rostock als Leiter der Dokumentation Zeitgeschichte tätig war, hat eine wahre Fleißarbeit vorgelegt: Auf 700 Seiten präsentiert er etwa 6.000 Einträge. Wer sich zum Beispiel eine seltene Platte des Salsa-Sängers Héctor Lavoe gekauft hat und wissen will, wer Felipe Pirela war, den Lavoe in seinen Boleros ehrt, der wird hier fündig. Mit seiner Fülle an Stichworten setzt Egon Ludwig allerdings nur aufs knapp angerissene Detail: Gesellschaftliche oder historische Zusammenhänge bleiben ausgeblendet. Dass es sich etwa bei den Abakuá auf Kuba um einen geheimen rituellen Männerbund handelt, ist nur die halbe Information. Ludwig erklärt nicht, dass die Wurzeln dieser einst afrikanischen Geheimgesellschaft in der Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat liegen.
Doch man braucht kein Ethnologe zu sein, um den Teufel im Detail auch anderer Einträge aufzuspüren. Die Entstehung des Buena Vista Social Club datiert Ludwig auf das Jahr 1995 – also zwei Jahre zu früh. Und bei Tito Puente, dem jüngst verstorbenen Latinjazzer und Mambo King, heißt es, dass der Bandleader erstmals die Tumba in eine Tanzmusikformation eingeführt hätte. Irrtum: Es waren die Timbales. Ludwigs Datenbank ist noch weiter verrutscht: Nicht Tito Puente, sondern der Salsero Rubén Blades hatte 1983 das Orchester Seis del Solar gegründet.
Kleinigkeiten? Mitnichten. Denn wenn es am Detail hapert, wie steht es dann ums Ganze? Nehmen wir die „Salsa“: Hier – wie auch anderswo – vermisst man nicht nur das Genuss des Fremdworts und dessen deutsche Übertragung („der“ oder „die“ Salsa?); die Erklärung selbst unterschlägt die Pfefferschoten der Gattung: „Musiziertechnik, die in variabel gestalteten Arrangements Elemente vorwiegend des Son cubano (. . .), des Merengue und weiterer lateinamerikanischer und teilweise sogar afrikanischer Tänze aufnahm.“ Fader können Definitionen nicht schmecken.
Dabei geht es um eine spannende Sache: Musikologen aus Kuba und Puerto Rico, deren Arbeiten Ludwig in einer ausführlichen Bibliografie zitiert, haben in ihren Darstellungen stets den Groove beherzigt. Ludwig dagegen beschreibt die berühmten Claves lieber als „Hartholzstäbe, die ein typisches Geräusch zum Markieren von Rhythmus beziehungsweise Spieltempo“ produzieren – da fehlt jeglicher Takt. Und das, was so „typisch“ sein soll, verschweigt der Autor.
Doch auch wenn die meisten Details stimmig sind, Ludwig scheitert an seinem zu groß angelegten Projekt: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Vielleicht hätte der Autor sich seinem Untersuchungsgegenstand thematisch statt lexikografisch nähern sollen. Claus Schreiners – leider vergriffene – Monografie „Música Latina: Musikfolklore zwischen Kuba und Feuerland“ hat in dieser Hinsicht einen Maßstab geliefert: Seine übergeordneten Themen lassen sich auch durch ein gut gegliedertes Glossar und Sachregister im Anhang erschließen. Ludwigs Lexikon aber bleibt notgedrungen an der Oberfläche haften. Wer also nach einem „Warum“ sucht, sollte das Buch gar nicht erst aufschlagen.
ROMAN RHODE
Egon Ludwig: „Música Latinoamericana“. Lexikon der lateinamerikanischen Volks- und Populärmusik. Lexikon Imprint Verlag, Berlin 2001, 710 Seiten, 68 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen