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Zottelige Rindviecher im Urwald

Eine Reise zum Białowieza-Nationalpark an Polens Grenze zu Weißrussland. In dem größten zusammenhängenden Waldgebiet Europas leben neben Wölfen auch 250 Wisente. Besucht werden darf der Park allerdings nur in fachkundiger Begleitung

von VOLKER ENGELS

Der Rucksack ist gepackt, die Reifen aufgepumpt, Zelt und Schlafsack auf dem Gepäckträger verstaut. Das Reiseziel liegt nah und ist mit dem Zug von Berlin aus in einer Stunde zu erreichen: Polen. Auf der mentalen Landkarte im Kopf ist das Nachbarland indes noch ein Schatten, der hinter den klassischen Reiseländern verblasst. Osteuropa eben.

Den Zöllner am Grenzübergang in Kostrzyn (Küstrin) interessieren solche Reflexionen wohl nicht. Er wirft einen eher gelangweilten Blick in die Pässe und wünscht eine gute Reise. Hinter uns blicken schwitzende Fahrer von Autos mit Berliner Kennzeichen genervt drein. Für den billigen Sprit und die zollfreie Stange Zigaretten lange zu warten, erscheint ihnen wie eine böse Zumutung.

Die Landstraße zieht sich in leichten Windungen und Wölbungen durch waldiges Gelände. Hin- und wieder schaukeln die Räder bedenklich, wenn tonnenschwere Laster mit baltischem Kennzeichen vorbeidonnern. Als wir das erste Dorf erreichen, lockt ein Tante-Emma-Laden zum Einkauf. Kaum ein Dorf kommt ohne diese kleinen Geschäfte aus, die ein Wunderwerk an Warenausstattung bieten.

Bestellung auf Polnisch

Neben Käse, würziger Wurst und frischem Brot findet man dort auf wenigen Quadratmetern so ziemlich alles, was das Herz des Reisenden begehrt. Einzige Bedingung: Ein paar Brocken Polnisch sollte man sich bei seiner Bestellung abringen. Denn Deutsch wird hier, jenseits der großen Märkte, nur selten gesprochen. Das holprige Bemühen wird fast immer mit einem freundlichen Lachen der Verkäuferinnen honoriert.

Dörfer mit Marienstatuen und alten Bauernhäusern, auf deren Dächer im Sommer Heerscharen von Störchen wohnen, liegen inmitten fruchtbarer Weidelandschaft. Auf den Feldern links und rechts des Weges graben Bauern den Boden mit Pflügen um, die von Pferden gezogen werden. Was dem Reisenden als romantisches Beiwerk erscheint, ist für die Landwirte wohl eher Folge wirtschaftlicher Not. Die Rast in Danków, einem Dorf abseits der Hauptstraße, gerät denn auch zu einem Ausflug in die Geschichte: Die alte Klosteranlage, direkt an einem See gelegen, trägt über ihrem Portal noch deutsche Schriftzeichen, die Gott und Ehre preisen.

Immer wieder passieren wir Campingplätze, die an klaren Seen gelegen sind und auf denen man preiswert sein Zelt aufschlagen kann. Auch Hotels, die das Doppelzimmer für weniger als 80 Zloty (rund 40 Mark) vermieten, sind in größeren Städten keine Seltenheit. Geschmälert wird die Freude über ein Zimmer mit Fernsehen und Dusche manchmal durch Diskussionen deutscher Senioren im Frühstücksraum, die sich gegenseitig versichern, dass vor 60 Jahren doch alles noch viel schöner war.

Auf billige Unterkünfte weisen Schilder mit der Aufschrift „Pokoje“ hin, die den Weg zu Privatquartieren zeigen. Schon in kleineren Städten sind auch Restaurants zu finden. Auf keiner Speisekarte fehlt die Rote-Bete-Suppe sowie Bigos, das Gemisch aus Kraut, Fleisch und Pilzen. Das kulinarische Lob meiner Begleiterin gilt einer Flaki. „Diese Pansensuppe“, sagt sie, „ist das Beste, was ich bisher in Polen gegessen habe.“ Geschmackssache. Sicher aber ist, dass kaum ein Essen für zwei teurer als 20 Mark ist.

Hin und wieder steigen wir vom Fahrrad auf den Zug um. Verglichen mit den Fahrpreisen der Deutschen Bahn ist die Reise fast umsonst: Für 450 Kilometer mit dem Bummelzug bezahlen wir für zwei Personen mit Fahrrädern nur 50 Mark. Ein Arbeiter, der in einer Papierfabrik sein Brot verdient, erzählt, dass er 250 Mark im Monat verdient.

Mit dem Zug erreichen wir im Nordosten Polens die Stadt Hajnówka, die rund 70 Kilometer von Białystok entfernt liegt. Abgesehen von russisch-orthodoxen Zwiebelkirchen hat die Kleinstadt wenig Bewegendes zu bieten. Lediglich der Marktplatz, auf dem auch viele Weißrussen Obst, Uhren, Werkzeuge sowie geschmuggelte Zigaretten anbieten, ist sehenswert.

Nach 20 Kilometern auf einer kaum befahrenen Landstraße gelangen wir nach Białowieża. Das Dorf liegt direkt an der weißrussischen Grenze. Ein Großteil der kleinen, bunten Häuser, die sich kilometerlang an der Dorfstraße entlangziehen, ist aus Holz gebaut. Das Interesse der Touristen richtet sich aber vor allem auf den angrenzenden Urwald, der als größtes zusammenhängende Waldgebiet Europas gilt und 1979 von der Unesco ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde.

Der Wald ist von einem hohen Zaun umgeben und darf nur mit fachkundiger Begleitung betreten werden. Unsere Rangerin heißt Anna, ist 75 Jahre alt und bessert als Führerin ihre karge Rente auf. Der Wachmann an dem massiven Eichentor, das vor ungebetenen Gästen schützen soll, hat offensichtlich schon Feierabend gemacht. „Säufer und Banditen, diese Wächter“, sagt Anna. Nur ein kleiner Teil des Waldes, dessen Fläche zum größten Teil auf weißrussischem Gebiet liegt, darf betreten werden – und das auch nur zu Fuß oder mit der Pferdekutsche. Der größte Teil des Waldes wird zu Forschungszwecken genutzt und dient Wölfen als Rückzugsgebiet. „Die Wölfe halten sich von Menschen fern“, beruhigt uns Anna, „keine Angst“. So richtig überzeugt klingt sie dabei nicht. Wir müssen immer wieder über umgestürzte Baumriesen klettern, die seit Jahrzehnten verrotten und von dicken Moosschichten bedeckt sind.

Jagdgebiet des Zaren

Menschen greifen hier in den Kreislauf der Natur nicht ein. Als Jagdgebiet für den russischen Zaren Nikolaus II. wurde der Urwald bereits vor 120 Jahren streng bewacht. Eine Bewirtschaftung war verboten, damit Durchlaucht nebst Gattin auch genug Beute machen konnte. Die unwirkliche Atmosphäre wird nach wenigen Metern noch dadurch gesteigert, dass Anna auf morsche Holzkreuze deutet, die Abseits des Weges im Dickicht stehen. Die Kreuze erinnern an russische und polnische Partisanen, die im Zweiten Weltkrieg der Gestapo Widerstand geleistet hatten. „Fast 200 Gestapo-Leute“, berichtet Anna, „wurden von den Partisanen damals erschossen.“

Das Symbol des Waldes und des Nationalparks ist der Wisent. Nachdem dieser bis auf wenige Exemplare ausgestorben war, hat man aus den überlebenden Kolossen, die dem amerikanischen Bison ähneln, Anfang der 50er Jahre eine neue Zucht aufgebaut. Heute leben wieder rund 250 dieser zotteligen Rindviecher im Białowieski-Nationalpark. Auf den „Urvater“ der Wisente, den Bullen „Blisch“, trinken wir abends in der Dorfkneipen ein kaltes Bier. Weit entfernt sind hungrige Wölfe und schwitzende deutsche Autofahrer am Grenzübergang.

Literatur: „Ute Frings, Anders Reisen Polen“. Rowohlt Verlag, 1998, 24,90 Mark. Die Autorin beschreibt die Geschichte, Politik und Kultur Polens anschaulich wie kritisch, gibt aber auch Information über Regionen und Routen. Apa Guides: „Polen“. 1997, 44, 80 Mark. Neben Informationen zu Geschichte, Kultur und Sehenswürdigkeiten vermittelt dieser Reiseführer vor allem durch viele Farbfotos einen Eindruck Polens.

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