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Die Kunst des Parasitismus

Seit dem 19. Jahrhundert ist das Schmarotzen höchst verpönt, vom Recht auf Faulheit ganz zu schweigen. Zu Unrecht, wie Ulrich Enzensberger virtuos und anschaulich belegt

von CLAUS LEGGEWIE

„Warum hat Gott dem Menschen so viel/quälendes Ungeziefer anerschaffen?/Genug, die Würmer sind da . . .“

Johann August Ephraim Goeze, Helminthologe (Wurmkundler), 1782

Wer an einer amerikanischen Universität Vorträge besucht hat, kennt sie: die Mitesser, die sich, mit Plastiktüten bewaffnet, bei anschließenden Wine-&-Cheese-Empfängen einfinden und zielstrebig die (ohnehin kargen) Büffets abräumen. Vor allem in New York gibt es Spezialisten, die sämtliche einschlägigen Events zwischen fünf und neun Uhr abends abklappern und sich ungeniert den Bauch voll schlagen. Als Ausrichter ist man geneigt, die Betreffenden des Saales zu verweisen – raus mit den Parasiten! Doch halt: Sie verleihen schwach besuchten akademischen Vorträgen Fülle und befriedigen die Eitelkeit von Referenten, an die sie ohne Scheu mit ihren Fragen herantreten.

Der penetranten Laufkundschaft noch freundlicher gesonnen war ich nach dem ebenso gelehrten wie amüsanten Durchgang Ulrich Enzensbergers durch die Kultur- und Naturgeschichte des Parasitentums. Wir sind alle Parasiten, lautet das Fazit des Autors, der über seinen Gegenstand durchgängig in Wir- Form schreibt, und das keineswegs bloß pro domo. Obwohl er das ohne weiteres könnte: Der einstige Kommunarde hat in der 68er-Zeit seitens der Springer-Presse und sonstiger freundlicher Zeitgenossen hinreichend Resonanz bekommen, was die Nazis wohl mit Schmarotzern wie ihm gemacht hätten, und auch als freier Schriftsteller ist man ein anerkannter Parasit.

Was Parasit ursprünglich heißt, klärt Enzensberger (im Anschluss an Ideen des französischen Philosophen Michel Serres) vorab, und ich parasitiere wörtlich: „Kein Mensch hätte an eine Zecke, einen Kuckuck, einen Bandwurm, an eine Mistel, eine Sommerwurz, einen Schimmelpilz, an ein Tier oder eine Pflanze, an einen Bettler, einen Bonzen, an einen reichen Müßiggänger gedacht. Das Wort bezeichnete im antiken Griechenland einen hochgeachteten religiösen Beamten. [..] Keinen Beamten mit Pensionsberechtigung wohlgemerkt, sondern einen von der Gemeinde gewählten Beamten auf Zeit ..., (dem) die Auswahl des Getreides, des Brotes, der Speise für das kultische Opfermahl (oblag).“

Parasitismus ist, wohlverstanden, Lebenskunst. Am besten formulierte das vor knapp 2.000 Jahren Lukian von Samosata, dessen satirischen Dialog Christoph Martin Wieland im Jahre 1788 ins Deutsche übertragen hat: „Alle anderen Künste sind ohne gewisse Werkzeuge (die mit Kosten angeschafft werden müssen) ihrem Besitzer unnütz; niemand kann ohne Flöte flöten, ohne Violine geigen, oder ohne ein Pferd reiten: (einzig die) Parasitenkunst ist sich selber so genug und macht es ihrem Meister so bequem. [..] Andere Kunstverwandte arbeiten nicht nur mit Mühe und Schweiß, sondern größtentheils sogar sitzend oder stehend, und zeigen dadurch, daß sie gleichsam Sclaven ihrer Kunst sind: der Parasit hingegen treibt die seinige auf eben die Art wie die Könige Audienz geben, – liegend“.

Auf dreihundert elegant geschriebenen Seiten erfährt man aus erster Quellenhand, wie diese Herrlichkeit leider verging und Parasit zum Schimpfwort verkam. Und war beim antiken parasitos noch ganz klar, dass es sich dabei um eine Person aus Fleisch und Blut handelte, driftete man zunächst weit in die Botanik ab (zu Misteln, Moosen und Flechten), um dann in die niedere Tierwelt abzustürzen (zu Läusen, Bandwürmern und Bazillen). Diese parasitologische Engführung war ebenso unsinnig wie ungerecht, stellt Enzensberger empört fest: „Was heißt hier eigentlich immer auf Kosten anderer? Gibt es im Tierreich Mein und Dein? Was sind hier Soll und Haben? Führt der Blutegel ein Konto, zieht der Löwe Bilanz? Ist der Floh amoralisch, weil er von keiner Pflanze zehrt? Die Schlange, die ihre Beute lebend hinabwürgt, der Löwe, der Panther, der mutige Bär, der hehre Aar, sie werden im Wappen geführt. Wer aber führt die Laus in der Fahne? Im Gegensatz zum Räuber . . . zeichnet sich der tierische Parasit doch gerade dadurch aus, daß er seinem Wirt, von dem er ja lebt, mit Schonung begegnet. Will man den Parasiten moralisch bewerten, dann ist er seinem Wesen nach liberal.“

Leben und leben lassen also. Doch je mehr die Naturwissenschaften das Zepter übernahmen und allen sozialen Verhältnissen ihren Stempel aufdrückten, desto schlimmer erging es den Parasiten: Aus Schmarotzern wurden soziale Schädlinge im Rang gemeiner Krimineller. Hätte man es bloß beim Abschneiden von Mistelzweigen und dem Ausreißen von Moosflechten bewenden lassen! Doch die Ausrottungsfantasien, die seit Robert Koch und Louis Pasteur auf Tuberkulose und Milzbrand gerichtet waren, wurden umgepolt, die Pflanzenparasiten nahmen Gesichter an und bekamen wieder Arme und Beine. „Allerdings verwandelten sie sich nicht in altgriechische Parasiten zurück, sondern wurden zu angeblichen Juden.“

Vollends verhängnisvoll waren das kapitalistische Arbeitsethos mit seinem Wahlspruch „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ und, wie Enzensberger eher beiläufig herausarbeitet, der nationale Wahn. Mit ihm begann die Jagd auf „Einschleicher“ im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Parasit endlich ein Hauptwort und der Sündenbock für alle erdenklichen Fehlschläge der Moderne. Die Metapher hatte sich verselbständigt, und dass angeblich Degeneration drohte, wurde zur „allgemeinen Zwangsvorstellung“, wovon übrigens die sozialistische Bewegung keine Ausnahme machte. Vielmehr verstaatlichte sie das Wort Parasit, und das „Recht auf Faulheit“, das Marx’ Schwiegersohn Paul Lagarde verkündet hatte, verhallte ungehört, woran auch die symbiotischen Idyllen einiger Anarchistenzirkel nichts ändern konnten.

Und heute, da nach jüngsten Erkenntnissen „von dem 1,8 Meter langen DNA- Strang in jeder Zelle des menschlichen Körpers keine dreißig Zentimeter ,in Betrieb‘ sind“, unser Genom mit anderen Worten massiv durch parasitische DNA kolonisiert ist? Enzensbergers triumphales Fazit kann einen nicht beruhigen. „Wir [Parasiten, C. L.] machen den größten Teil des menschlichen Genoms aus.“ Denn die Frage drängt sich auf, was mit den Hausbesetzern geschehen soll. In der aktuellen „Gen-Ethik-Debatte“ verbietet man sich jede Erinnerung an Eugenik und Euthanasie, die bis vor kurzem Usus war, aber das dürfte ein Fehler sein. Stieß die Verwirklichung einer „positiven Eugenik“ und Auslese bis vor kurzem noch auf technische Hindernisse, kann die Perfektionierung der Menschheit nun mittels ausgeklügelter Reproduktionstechnologien vorangetrieben werden.

Nicht zufällig leben in neokonservativen und neoliberalen Denkschulen auch die Schmarotzerbeschimpfungen wieder auf, jüngst aus dem Mund unseres Bundeskanzlers (SPD). „An die Arbeit!“ und „Lebenslänglich wegsperren!“, fordert der Sozialdarwinismus der neuen Mitte, und ist sich nicht einmal mehr seiner kulturgeschichtlichen Herkunft bewusst. Und wenn all die Sozialstaatsverächter wüssten, welch unproduktive Arbeit sie als qcZirkulationswanzen“ leisten!

Ulrich Enzensberger hat ein eminent politisches Buch geschrieben, das im Übrigen zeigt, welchen Spaß Philologie und Begriffsgeschichte machen können. Zünftige Wissenschaftshistoriker mögen über die eine oder andere Zuspitzung den Kopf schütteln, und um nicht als Kolax, als Schmeichler und somit aus der Art geschlagener Parasit zu gelten, seien auch die schwächeren Stellen herausgestellt, die in der Darstellung der Aufklärungsepoche, im aktuellen Ausblick und in der Fixierung aufs Abendland liegen. Trotzdem ist Enzensberger ein großer Wurf gelungen, aus dem man sich freudig bedient und als Rezensentenschnorrer geläutert hervorgeht. Wenn der Parasit stirbt, ist es schlecht bestellt, und zwar um die Wirte, die dann reich und allein sind. Der Schmarotzer hingegen, er „stirbt sanft und süß unter vollen Schüsseln und Bechern“ (Lukian/Wieland).

Christian Enzensberger: „Wir Parasiten. Ein Sachbuch“, 299 Seiten, Eichborn (Die Andere Bibliothek), Frankfurt am Main 2001, 54 DM (27,50 €)

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