: Lieber zu Miraculix gehen
Trotz der Erkenntnis, dass Nahrungsergänzungsmittel häufig mit verbotenen Substanzen versetzt sind, schwören die meisten Spitzensportler weiterhin auf vermeintlich Kraft spendende Produkte
von MARKUS VÖLKER
Die französische Sportzeitung L’Équipe rief das abgelaufene Jahrzehnt zur Dekade des Muskels aus. Nicht ohne Hintersinn, denn der Wettkampf wird längst auf molekularer Ebene ausgetragen. Jedes Mittel ist recht. Auch das Nahrungsergänzungsmittel. Die Hochspringerin Amewu Mensah wollte ihren Oxandrolon-Fall nicht auf die Kontaminierung zugeführter Kraftnahrung schieben. Ansonsten aber hat diese Deutung bei Nandrolon-Sündern vom Kugelstoßer C. J. Hunter über Fußballer Frank de Boer bis 400-m-Läufer Mark Richardson weiterhin Hochkonjunktur. Inzwischen zunehmend mit Erfolg. Richardsons Sperre wurde verkürzt, ebenso die von de Boer.
Es ging schon immer skurril zu auf diesem Markt. Aristoteles liebte es, Zikaden vor dem Schlüpfen zu verspeisen, weil sie dann „voller weißer Eier“ seien. Die Chinesen indes schwören auf die belebende Wirkung der Dreistreifen-Scharnierschildkröte, trinken deren Blut und zermörsern deren Panzer. Die amazonischen Piaroa-Indianer grillen Taranteln, bevor sie auf die Jagd gehen. Die Norweger schreiben dem Braunkäse Brundst Besonderes zu.
Die Supplemente der Neuzeit sind in weißen Plastikdöschen verpackt. Die Hersteller der vermeintlichen Wundermittel spielen mit dem Aberglauben der Athleten. Der Ringer Alexander Leipold nahm nicht weniger als 61 legale Mittel ein, um den Traum vom olympischen Gold zu erfüllen. Er schluckte „Gelee Royal Q 10“, „Johannisbeer-Kernöl-Kapseln“, überdies die beliebten Kreatin und Carnitin.
Ebenso wie Leipold, in dessen Urin sich das verbotene Steroid Nandrolon fand, landete eine ganze Reihe von Sportlern auf der Suche nach dem Optimum im Netz der Dopingfahnder. Meist ging es um Nandrolon. Eine Studie des baden-württembergischen Ministeriums für Landwirtschaft warnt Athleten, die auf Nahrungsergänzung schwören. Von 139 Proben einschlägiger Produkte enthielten 16 Substanzen, die verboten sind.
„Ich habe ziemlich viel probiert, aber nie etwas gemerkt“, sagt Rainer Müller, einer der erfolgreichsten deutschen Triathleten. „Nahrungsergänzung ist eine Glaubensfrage, subjektiv hat das nichts gebracht.“ Anfang der Neunziger glaubte er noch an Kreatin. Er wollte den Stoff sogar über eine Firma in Deutschland vermarkten. Dann ließ er davon ab. Kreatin stählt vielleicht die Muskeln, schwemmt aber auch Flüssigkeit in das Gewebe, sodass der Sportler Gewicht zulegt und verletzungsanfälliger wird.
Potenzielles Krebsrisiko
In einer Expertise stellte die Agentur für Gesundheitsschutz und Lebensmittel der französischen Regierung fest, dass Kreatin ein „potenzielles Krebsrisiko“ birgt. Es seien keine Wirkungen bezüglich Schnelligkeit und Maximalkraft festgestellt worden, so die Studie. Wer trotzdem nicht auf Kreatin verzichten möchte: Der baltische Hering enthält Unmengen davon.
Das Angebot ist riesig, die Heilsversprechen sind unverschämt. 1,5 Milliarden Mark geben die Deutschen für dubiose Pülverchen aus. Die Einnahme „megaanabolischer Aminokomplexe“ verspricht eine Leistungsexplosion, dabei tut es ein Teller Bohnensuppe auch. Vitamine sollen in Überdosen verspeist werden, raten die Produzenten. Übersehen wird, dass die Vitamine A und D, in Mengen eingenommen, Muskelschmerzen, Hautrötung, Kopfweh und Verstimmung auslösen können.
Einsteigern wird Taurin empfohlen, ein Zwischenprodukt bei der Herstellung von Reinigungsmitteln, das ganz vorzüglich gegen Schimmel wirkt. Carnitin wiederum, der Stoff für angehende Muskelprotze, schmeckt den Larven der Mehlwürmer gut. Es beschleunigt die Fettverbrennung. Zu viel davon führt zu Durchfall und üblem Körpergeruch. Man stinkt nach verfaultem Fisch. Acht Mark kosten die täglichen zwei Gramm. „Ziemlich teuer“, findet Müller. Preiswucher gehört zu den Verkaufsstrategien ebenso wie Verbrauchertäuschung. Es wird schlecht deklariert. Beschwerden erreichen die Firmen, die zumeist übers Internet agieren, selten.
Vorsicht ist allerorten geboten. Nicht nur dass laut der Amerikanischen Gesellschaft für Ernährung die synthetischen Ergänzungsmittel „Gesundheit und Leistung mit ernsthaften Folgen“ bedrohen, sie schaden der Karriere von allzu leichtfertigen Spitzensportlern erheblich. Supplemente sind keine Arzneimittel. Die Wirksamkeit muss nicht in aufwändigen Tests nachgewiesen werden. Enthaltene Steroide sind normal. „Die sind nicht verunreinigt, die sind so“, sagt Dirk Clasing, der sich beim Deutschen Sportärztebund um die Leistungssportler kümmert. Einen Zaubertrunk jenseits des Dopings gebe es eh nicht, sagt Clasing, „da müssen sich die Interessierten schon an Obelix und Miraculix wenden“.
Normales Futter bringt’s
Sein Kollege Jürgen Haberstroh sitzt manchmal vor japanischen und kyrillischen Schriftzeichen und fragt sich, welche Mittelchen seine Biathleten – er betreut den deutschen Nachwuchs – da wieder aufgetrieben haben. Er sagt, mit Nahrungsergänzungsmitteln erreiche man gar nichts. „Normale, vernünftige Ernährung“ bringt’s, so Haberstroh.
Nicht jeder Athlet entwickelt diese Weitsicht. Vor allem nicht, wenn er mit Doping sehr wohl die Leistung steigern kann – mit Epo, wasserlöslichen, sich schnell verflüchtigenden Steroiden, oder Hemopur, das, nur zehn Minuten vor dem Start injiziert, Wunder bewirkt. Beliebt ist auch Perfluorcarbon, ein künstlicher Sauerstoffträger, der für Schwerverletzte gedacht ist, die viel Blut verlieren.
Angesichts der schleichenden Intoxikation dürfte es L’Équipe daher nicht schwer fallen, 2010 auf das Jahrzehnt der Massenmogelei zurückzublicken.
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