: Am Ende der Zermürbung
von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA
„Am Dienstag, dem 06. 02. 2001, gegen 08:00 Uhr, wurde der 63-jährige Direktor des Arbeitsamtes Verden, Klaus Herzberg, leblos vor der geöffneten Garage seines Einfamilienhauses in Verden-Borstel liegend durch eine Anwohnerin aufgefunden. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.“ So beschreibt eine Pressemitteilung der Polizei die Tat, als Todesursache stellt die Gerichtsmedizin später Stichverletzungen am Kopf fest, die von einem Dreikantschaber herrühren.
Bereits anderthalb Stunden nach der Tat erscheint der arbeitslose 46-jährige Werner B. beim Bundesgrenzschutz im Hauptbahnhof Bremen. Er bezichtigt sich selbst, Klaus Herzberg getötet zu haben, wird festgenommen und erklärt, dass er seit zwei Jahren Probleme mit dem Arbeitsamt in Verden habe.
Mehr hat Werner B. zu den Motiven nicht gesagt. Das wird erst sein Anwalt tun, wenn morgen vor dem Landgericht der 28.000-Einwohner-Stadt Verden in Niedersachsen der Prozess beginnt. Der Verteidiger wird eine 40-seitige Erklärung seines Mandanten verlesen, der sich wegen Mordes aus niederen Beweggründen verantworten muss.
In dem Prozess wird es also um den Tod Herzbergs gehen, um den jetzt seine Frau und der erwachsene Sohn trauern. Das Gericht wird fragen, ob es Mord war – so sieht es die Anklage – oder Totschlag, wie die Verteidigung meint, und ob der Angeklagte zur Tatzeit zurechnungsfähig war. Aber es wird auch um die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit gehen und um das manchmal zermürbende Prozedere beim Arbeitsamt.
Werner B. war seit dem Konkurs seines letzten Arbeitgebers 1992 arbeitslos. Er teilte das Schicksal von über 60.000 arbeitslosen Ingenieuren in Deutschland. Seit je richtet sich das Arbeitsangebot für diese Berufsgruppe stark nach den konjunkturellen Schwankungen. Der gebürtige Gelsenkirchener war seit zwei Jahren beim Arbeitsamt Verden arbeitslos gemeldet. Nach Angaben seines Anwalts hat er sich „überobligatorisch“ um Arbeit bemüht und mehrere Fortbildungen und Sprachkurse in Französisch und Englisch gemacht.
Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit, die hin und wieder von ABM-Stellen unterbrochen wurde, entdeckte Werner B. Ende der 90er-Jahre das Internet als Diskussionsforum. Er engagierte sich in Arbeitslosenforen, wo er unter anderem für eine Verkürzung der Arbeitszeit und für ein existenzsicherndes Einkommen für alle eintrat. Er nahm an Kongressen der Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen teil und übersetzte regelmäßig Texte aus dem Informationsdienst der französischen Erwerbslosenbewegung, die er manchmal ergänzt um Bemerkungen zu seiner eigenen Situation an deutsche Arbeitsloseninitiativen weiterleitete. Werner B., der einmal zur Sabotage des Kanalisationssystems als Akt des kreativen Widerstandes aufrief, hatte, wie er es im Internet schrieb, seinen „Heimatzusammenhang in der europäischen Erwerbslosenbewegung gefunden“.
Im vergangenen Sommer schien sich seine Position nach acht Jahren Arbeitslosigkeit zu verbessern. Werner B. begann eine Umschulung zum 3D-CAD-Konstrukteur, eine spezielle Ausbildung zum technischen Zeichnen am Computer. Er wollte so schnell wie möglich lernen, um sich bereits vor Abschluss der Ausbildung bewerben zu können. Doch dazu kam es nicht. Ende November brach er die Fortbildung ab. Gut eine Woche später schilderte er in einem Brief an den Direktor des Arbeitsamtes in Verden ausführlich seine Gründe: „Hoher Anteil von Leerlaufzeit“, zu allgemeine Gliederung des Lehrgangs ohne konkrete Angaben zu Lerninhalten, fehlende profunde Kenntnisse einer Lehrkraft über die im Kurs vermittelte Software. „Eine solche Organisation der Vermittlung von Weiterbildungsinhalten wirkt motivationszermürbend“, teilte er Klaus Herzberg mit. Zudem kritisierte er die „nicht unübliche Praxis“ von Arbeitsämtern, Arbeitslose in Weiterbildungen zu „parken“, damit sie in den Statistiken nicht als arbeitslos geführt werden. Am Ende des Schreibens äußerte Werner B. die Hoffnung, dass ihm aufgrund der „vorliegenden Umstände“ die Arbeitslosenhilfe nicht gesperrt werde.
Am 12. Januar traf Werner B. Klaus Herzberg zufällig im Foyer des Arbeitsamtes. In einem Brief, den er ihm am selben Tag schrieb, warf er ihm vor, ihn falsch informiert zu haben, als er ihm sagte, dass jeder, der eine Weiterbildung abgebrochen habe, mit einer Sperre belegt werde. In der Tat hängt es von der Stichhaltigkeit der Gründe für die Beendigung einer Umschulung ab, ob die Unterstützung eingestellt wird. Im weiteren Verlauf des Briefes machte Werner B. den Direktor persönlich für seine Situation verantwortlich: „Ich betrachte Sie allein als die politisch-administrativ verantwortliche Person.“ Für den Fall einer Sperrung ließ er Herzberg wissen: „Damit brechen Sie mir das Genick.“ Der Brief endete mit einem wirren Vergleich mit „Nazischergen“ und der Frage, ob Herzberg „an Kulthandlungen einer protestantischen Kirche teilnehme“. Anfang Februar teilte das Amt Werner B. mit, seine Arbeitslosenhilfe werde nun gesperrt. Wenige Tage später, am 6. Februar, passte er den Direktor vor dessen Wohnhaus ab. An diesem Tag wollte Herzberg, der 22 Jahre lang das Arbeitsamt leitete, die aktuellen lokalen Arbeitslosenzahlen vorstellen.
Der Verteidiger des Angeklagten, Michael Brennecke, sieht „keine direkte Kausalität“ zwischen der Tat seines Mandanten und dessen Vorgeschichte. Die Tat von Werner B. sei „keinesfalls der Amoklauf eines Kranken“. Der Anwalt spricht von einem Motivationsbündel. „Man kann diskutieren, dass bestimmte Rahmenbedingungen Verhältnisse schaffen, wo der Mensch zermürbt wird.“ Und: „Wenn der Druck von allen Seiten größer wird, gibt es Ventile.“ Brennecke bezeichnet seinen Mandanten als „hochintelligent und sehr intellektuell“: „Er überprüft sich selbst emotional.“ Ein Gutachten soll klären, ob Werner B. zur Tatzeit vermindert schuldfähig war.
Werner B. litt unter seiner Langzeitarbeitslosigkeit und den finanziellen und persönlichen Problemen. Den vielen virtuellen Kontakten im Internet stand eine zunehmende menschliche Vereinsamung gegenüber. Den Kontakt zu Eltern und Geschwistern hatte er vor vielen Jahren abgebrochen. Bei seiner Freundin zog er wegen Streitigkeiten aus, wenige Monate bevor sie das gemeinsame Kind zur Welt brachte. Das letzte halbe Jahr vor der Tat hat er in Thedinghausen bei Bremen in einem kleinen Zimmer auf einem Bauernhof zur Miete gewohnt.
Der ehemalige Vermieter, ein Landwirt, der Sozialpädagogik studiert und noch nie ein Arbeitsamt von innen gesehen hat, sagt: „Es hat Spaß gemacht, sich mit ihm zu unterhalten.“ Doch immer wenn er ihn nach persönlichen Dingen gefragt habe, habe er „mit Zitaten aus Büchern“ geantwortet. „Es war alles sehr theoretisch.“ Wenn das Gespräch auf Ämter kam, habe Werner B. sowohl von „blöden Gesetzen“ gesprochen, die „exekutiert werden müssen“, als auch davon, dass „die auf der anderen Seite des Schreibtisches“ ebenso leiden würden wie er. „Aggressiv oder ausgeflippt“ habe er ihn nie erlebt.
Als eine Person mit einem starken Gerechtigkeitssinn hat der ehemalige Vermieter Werner B. erlebt. Der Mann habe sehr darunter gelitten, sein Kind nicht sehen zu dürfen. Die Exfreundin habe es ihm nicht erlaubt, weil er seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte. Der Vermieter beschreibt Werner B. auch als eine Person mit unumstößlichen Prinzipien. So sei er vor Gericht gezogen, weil das Arbeitsamt ihm für die Umschulung nicht die Kosten für den Transport seines Fahrrades im Zug bezahlen wollte. Zwar sei er erfolgreich gewesen. Doch das Angebot des Arbeitsamtes, einen Vergleich zu schließen und die Kosten zu übernehmen, habe Werner B. nicht gereicht. „Er wollte eine Verurteilung, die er im Internet veröffentlichen kann“, berichtet der Vermieter.
In den verschiedenen Arbeitsloseninitiativen herrscht Einigkeit darüber, dass die sozialen Umstände der Tat von Werner B. zu berücksichtigen seien: wachsender Druck, Erniedrigungen, Existenznöte. Doch über B.s Engagement gehen die Meinungen auseinander. Eine Initiative aus dem Raum Bremen/Oldenburg wirft ihm vor, dass er, „Auseinandersetzungen auf individuell-persönlicher Ebene“ ausgetragen habe statt „Handlungsstrategien zu finden“, mit denen sich die Arbeitslosen erfolgreich „gegen nicht akzeptable Ämterentscheidungen“ wehren können.
In einem Beitrag in der Zeitschrift müßiggangster hingegen, herausgegeben von den Berliner „Glücklichen Arbeitslosen“, wird dazu aufgerufen, Werner B. nicht im Stich zu lassen. „Wenn der Begriff von mildernden Umständen einen Sinn hat, dann hier.“ Die Begründung: „Die Institution Arbeitsamt und ferner die Verzweiflungsfabrik namens Arbeitsmarktpolitik tragen eine Mitschuld an Klaus Herzbergs Tod.“ Der Mord an dem Arbeitsamtsdirektor wird als ein „tödlicher Fall von Zumutbarkeit“ und ein „Symptom einer wachsenden Krise“ bewertet. Erstaunlich sei allein, dass solche Ausbrüche nicht öfter vorkommen.
Unterstützung erhält Werner B. auch von französischen Arbeitslosen. Diese nennen ihn in einer Erklärung „Thermometer einer steigenden Spannung“. Der Grad der Gewalttätigkeit sei erschreckend, zugleich aber „eine direkte Reaktion auf erlittene Gewalt und Ohnmacht“. Der Angeklagte habe mit seiner Arbeitslosigkeit und Marginalisierung „teuer bezahlt“. Die Unterstützung einiger französischer Arbeitslosen ging so weit, dass sie ins Untersuchungsgefängnis Post mit Ausbruchstipps und Aufforderungen wie „Weiter so!“ schickten. Die Briefe wurden beschlagnahmt.
Ein Brief, den Werner B. drei Tage nach der Tat im Gefängnis schrieb, wurde zugestellt. Von Ausbruch ist darin nicht die Rede. Er erklärt seinem Vermieter, dass er das kleine Zimmer auf dem Bauernhof kündigt. „Weil ich für mindestens 15 Jahre im Gefängnis bleiben werde“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen