„Die Freier sind kein Stück besser“

BINNENWELTEN – die taz-Serie über den unsichtbaren Alltag. Teil 2: Wohnzimmer zwischen Schalterhalle und Taxistand: Der Hauptbahnhof ist das Zuhause von mehreren hundert Straßenkindern  ■ Von Elke Spanner

Die Frage ist gut, sagt Gabriel (Name von der Redaktion geändert). Hat er sich so noch gar nicht gestellt. Irgendwann war er eben am Hauptbahnhof, wie man da so hinkommt, und dann ist er einfach geblieben. Fünf Jahre oder sechs. Weg von Zuhause, Hauptsache fort und frei sein, das war wichtig. Kein „Wann kommst Du nach Hause?“ mehr. Kein Streit mehr, wenn er dann doch später oder gar nicht kam. Und das mit der Arbeit, das war ihm damals sowieso egal. In der Schiffsbauer-Werkstatt wollten sie ihm keinen Urlaub geben, also nahm er ihn sich selbst. Das war dann erstmal für lange Zeit sein letzter Job gewesen.

„Kofferkuli gegen Pfand“, steht auf dem Gepäckwagen, den jemand direkt vor dem U-Bahn-Schacht hat stehen lassen. Statt ihn kurz aus dem Weg zu schieben, machen alle PassantInnen im Vorbeieilen einen Bogen darum. Auf der Rückseite des Bahnhofs, zwischen Kirchenallee und DB-Infozentrum, scheinen alle in Eile zu sein, auf dem Weg vom Gleis zum Taxi oder aus der U-Bahn zur Schalterhalle. Für die meisten Menschen ist der Hauptbahnhof ein Ort zum Durchreisen, nicht zum Verweilen. Hier werden allenfalls Wartezeiten überbrückt, aber keine Tage gestaltet. Für viele Männer und Frauen aber sind der Bahnhofsvorplatz, die Wandelhalle und die angrenzenden Straßen St. Georgs zum Zuhause geworden. Hier treffen sich „Stricher, Junkies, Freier, Alks“, sagt Gabriel. Auch Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren, manche auf Droge, andere nicht.

Wie viele in Hamburg auf der Strasse leben, weiß niemand. Zu sehen sind sie auf einen flüchtigen Blick nicht. Die Hektik am Bahnhof täuscht, Anonymität bietet auch Schutz. Allein in die Einrichtungen von „Basis e.V.“, der rund um den Hauptbahnhof Anlaufstellen für Straßenkids und männliche Prostituierte unterhält, kommen pro Jahr laut Geschäftsführer Thomas Nebel um die 700 junge Menschen.

18 oder 19 Jahre ist Gabriel, als er zum Bahnhof kommt. Plötzlich fühlt sich das Leben ganz anders an. Da bist du frei, und Geld, sagt er, kannst du auch verdienen. Da hast du Kumpels, mit denen hängst du drei Monate rum, und dann hast du wieder neue. Da sind Drogen, da sind Partys, und dann kommt jemand und fragt, ob du ihm beim Autoklauen hilfst. Und du denkst dir, der ist jünger als du, Scheiße, warum kann der das und du nicht? Also gehts los.

Einmal sind sie mit einem geklauten Opel nach Berlin gefahren, erzählt Gabriel. Er lacht über sich und seinen „Kollegen“. Unablässig kreist der Schlüsselbund zwischen den Fingern seiner linken Hand. Auf halber Strecke qualmte es plötzlich aus der Motorhaube. Sie also raus aus dem Wagen, kennt sich jemand damit aus, nö, „aber klauen, das konnten wir gut“, sagt Gabriel und amüsiert sich über die Bilder, die in der Erinnerung an ihm vorüberziehen. Also wieder rein in den Wagen, weiter damit, bis er ein zweites Mal stehen bleibt. Jemand kommt, will abschleppen helfen, fragt, ob die Jungs ein Seil im Kofferraum haben. Blöde Situation. Es gibt natürlich keinen Schlüssel für den Kofferraum. Mussten dann zu Fuß abhauen, ehe der die Bullen rief. Was sie in Berlin wollten? Keine Ahnung. Aber Spaß hat es gemacht. Der Kumpel hat ihn übrigens irgendwann beklaut. Da war es vorbei mit der Freundschaft.

Wer zum Bahnhof kommt, hat in der Regel schon eine harte Zeit hinter sich. Mit seiner Berufsausbildung stellt Gabriel eine Ausnahme dar, die meisten haben nicht einmal einen Schulabschluss. Die meisten der Mädchen und Jungen haben in ihrer Kindheit Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt. Jedes fünfte auf der Straße lebende Kind hat mehr als fünf verschiedene Heime hinter sich. Am Bahnhof, sagt Basis-Geschäftsführer Nebel, suchen sie die Gemeinschaft zu Anderen und geraten darüber häufig in einen Kreislauf aus Drogen und Prostitution. Der Bahnhof, sagt Gabriel, „ist keine Adresse, aber ein Aufenthaltsort“.

Der 24-Jährige lacht viel, gerne auch über sich selbst. Tiefe Grübchen graben sich dabei in sein Gesicht. Seine klaren braunen Augen strahlen, selbst wenn er sagt, dass er „echt total fertig war“, auch von den Drogen, alles außer Heroin. Nicht nur, weil er jetzt da raus ist, feste Wohnung, Job bei Hinz & Kunzt. Irgendwie „war es am Anfang auch toll“. Morgens trifft man sich am Bahnhof, draußen an der Bushaltestelle. Manche gehen dann los, was zu rauchen holen, oder Bier. Er ist dann oft erstmal auf die Mönckebergstrasse in ein Kaufhaus gegangen, Playstation spielen, oder in die schwule Sauna, da kann man noch mal zwei Stunden schlafen, Handtücher gibt es, und sauber sind sie auch. Dann wieder zum Bahnhof, mal gucken, wer da ist, und was so geht. Dann und wann ans Schließfach, neue Klamotten holen, am besten für ein paar Tage im voraus, dann ist die Miete billiger. Und spätestens alle zwei Tage duschen, das ist wichtig.

Wer am Bahnhof lebt, sagt Gabriel, hat viel zu tun. Zuviel in der Regel, um an so etwas wie Zukunft zu denken. Folglich hast du auch keine. „Die meisten bleiben da hängen.“ Alles muss organisiert sein, der Tag, das Geld, der Schlafplatz. Geschlafen wird, wo es gerade geht. Manchmal in einer Übernachtungsstelle von Basis e.V., manchmal tagsüber im Bus, Tageskarte kaufen und dann immer hin und her. Oder im Sex-Kino, das hat die ganze Nacht geöffnet. Oft hat Gabriel zum Schlafen die Alsterschwimmhalle gewählt. Dann war er nachts unterwegs, und tagsüber war er im Hallenbad. Seinen Freunden hat er dann erzählt, dass er gerade sooo eine große Wohnung hat, sagt er und breitet grinsend die Arme aus. Mit Solarium, Swim-mingpool und Fitnessraum.

Geld gibt es „durch verschiedene Sachen“, Zockereien hier und da, viele gehen auf den Strich. Manche bleiben ein paar Tage bei Freiern und schlafen sich mal richtig aus, immer gegen Gegenleistung, versteht sich, auch wenn die Mädchen oder Jungen in der Zeit von einem „Freund“ erzählen, bei dem sie gerade untergekommen sind. Gabriel wehrt ab. Am Bahnhof ist eigentlich jeder ein Freund, die Freier aber nicht, „das sind halt Freier“. Wie oft haben sie ihm oder Kumpels was versprochen, ihr könnt bei mir arbeiten, ihr könnt bei mir wohnen. Er winkt genervt ab. Am Anfang hat er sich oft was davon erhofft, aber wenn du das ein paar Mal erlebt hast, „pah“. „Sie halten uns für ein Stück Dreck“, sagt Gabriel. „Aber in dem Moment, wo sie mit uns ins Hotel gehen, sind sie kein Stück besser.“ Er weiß sowieso nicht, was die sich dabei denken, ein Mädchen oder einen Jungen mit zu sich zu nehmen.

Manchmal hatte Gabriel auch eine Wohnung zwischendrin, und trotzdem ging er immer wieder zum Bahnhof zurück, „es war wie ein Zwang, da war irgendwas“. Vor einem Jahr lernte er dann seine Freundin kennen, nicht auf der Szene, „das ist 'ne Brave“. In einer Bar hat sie ihn angesprochen. Wusste gleich, was los ist, und hat ihn gefragt, ob er heute genug Geld verdient habe, um ihr einen auszugeben. Mann, hat es ihn da erwischt.

Mit ihr wohnt er jetzt zusammen, nahe dem Berliner Tor. Plötzlich passte alles nicht mehr zusammen, die Wohnung, die Freundin, der Hauptbahnhof. Von etwas musste er sich trennen, da hat er sich für seine Freundin und gegen den Bahnhof entschieden. Die Sozialarbeiter von Basis e.V. haben ihm gezeigt, wie man sonst noch Geld verdienen und wie man es außer für Drogen ausgeben kann. Jetzt verkauft er Hinz & Kunzt, seit sechs Wochen schon. Um sieben Uhr steht er auf, fährt nach Barmbek, stellt sich vor Aldi und verkauft. Am Anfang dachte er, ohne Drogen geht es nicht, allein das Wachhalten schon. Und jetzt steht er da und wundert sich manchmal über sich selbst. Zum Bahnhof geht er nicht mehr. Allerdings, sagt er, kommt der Bahnhof jetzt zu ihm.

Seit dort die Junkies verstärkt von der Polizei vertrieben werden, grinst Gabriel, „sind die jetzt bei uns am Berliner Tor“. Erst neulich hat ihm einer sein Fahrrad geklaut, direkt vor der Tür, sagt er und grinst.

Basis e.V. betreibt am Bahnhof eine Anlaufstelle für Strassenkids und eine zweite in St. Georg für männliche Prostituierte. Dort können die jungen Leute essen, sich aufwärmen, einen Schlafplatz organisieren oder eine Ärztin konsultieren. Zudem organisiert der Verein für die Mädchen und Jungen Unterrichtsstunden sowie kleine Jobs. Mit der Plakat-Aktion „Paten für Strassenkids“ (Abb. links) sucht Basis e.V. Menschen, die die Arbeit mit einem finanziellen Beitrag von zehn Mark im Monat unterstützen wollen. Kontakt: Tel. 24 96 94 oder www.strassenkids.de