: „Schwere Fälle bemerkt niemand“
Peter Schönhöfer, Mitherausgeber des „Arznei-Telegramms“, über den mangelhaften Schutz der Patienten und das Fehlen eines Erfassungssystems
Interview CONSTANTIN VOGT
taz: Herr Schönhöfer, in den USA soll das Bayer-Medikament „Lipobay“ 31 Todesopfer gefordert haben. Auch in Deutschland könnte es Todesfälle gegeben haben. Wie steht es bei uns mit dem Schutz der Patienten vor Nebenwirkungen?
Peter Schönhöfer: In einem Wort: mangelhaft. Dabei gibt es jährlich 210.000 Fälle von schwerwiegenden, also Krankenhausbehandlungen erforderlich machenden Nebenwirkungen in Deutschland. Von denen sind 70.000 so lebensbedrohlich, dass sie eine intensivmedizinische Behandlung nach sich ziehen, 16.000 sind sogar tödlich. Diese Zahlen haben wir seit 1985 in Bremen am Institut für Klinische Pharmakologie in Untersuchungen belegt. Die Größenordnungen haben sich bis heute nicht wesentlich verändert. In der Studie haben wir die Nebenwirkungen von Medikamenten in den vier Bremer Zentralkrankenhäusern erfasst und auf ganz Deutschland hochgerechnet.
Damit sterben an Arznei-Nebenwirkungen doppelt so viele Menschen wie im Straßenverkehr.
Das ist richtig. Allerdings werden von den ingesamt 210.000 Fällen nur etwa 2 Prozent tatsächlich gemeldet.
Gibt es ein System für die Erfassung von solchen Ereignissen?
Nur unzureichend. Die Nebenwirkungen sollten dem Arzt auffallen. Der meldet sie dann an die Hersteller oder an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Hört sich nach Prinzip Zufall an.
So könnte man sagen. In den meisten Fällen erkennen Ärzte nicht, dass es sich um unerwünschte Wirkungen eines Medikamentes handelt. Sie stellen eine neue Erkrankung fest und sehen den Zusammenhang nicht.
Warum fehlt ein System zur Erfassung von Nebenwirkungen?
Es gibt kein offizielles oder politisches Interesse. Vielleicht ist es auch Industriegläubigkeit, Dummheit oder ein falscher Informationsstand. Klar ist, dass wir ein Erfassungssystem dringend brauchen. Das hat auch die Gesundheitsministerkonferenz der Länder im letzten Jahr gefordert.
Ein Erfassungssystem würde aber nicht vor den Nebenwirkungen schützen. Ist es da nicht längst zu spät?
Risiken würden schneller erkannt. Todesfälle und schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen würde es auch damit geben. Aber die Zahl der tödlichen Fälle ließe sich deutlich reduzieren. Also: mehr Sicherheit für die Patienten.
Was hindert das Gesundheitsministerium daran, so ein Erfassungssystem einzurichten?
Im aktuellen Fall finde ich es beeindruckend, dass Bayer entgegen Umsatzerwartungen die Entscheidung getroffen hat, das Medikament zurückzurufen. Dabei spielen ökonomische Gründe eine große Rolle. Offensichtlich hat sich bei Bayer aber die Qualitätssicherung gegen das Marketing durchgesetzt. Das zeugt von einem hohen Risikobewusstsein. Das würde ich mir bei mehr Firmen wünschen.
Werden Patienten und Pharmafirmen nicht immer vorsichtiger?
Mit Sicherheit nicht. Die meisten schweren Fälle bemerkt niemand. In den 70er-Jahren, nach Contergan, war das noch anders. Da gab es eine größere Aufmerksamkeit für solche Fälle. Die heutige Situation ist ein klarer Rückschritt. Der Patientenschutz ist im Dienste der Pharmaindustrie ausgehölt worden.
Verspricht da die EU-Pharmabehörde Besserung?
Nein. Die ist inzwischen wie die amerikanische „Food and Drug Administration“ zu einem reinen Dienstleister für die Pharmaindustrie verkommen. Die EU-Behörde ist noch nicht einmal beim Verbraucherschutz angesiedelt, sondern bei der Wirtschaftsförderung. Das offenbart die Marschrichtung: Man berücksichtigt nur die Wünsche der Wahrenanbieter. Außerdem plant man auf EU-Ebene, die Zeit für die Zulassung von Medikamenten auf ein halbes Jahr zu verkürzen. Das wäre für die Sicherheit der Patienten eine Katastrophe. Die EU-Behörde will sich da einen unschmeichelhaften Wettlauf mit den US- Kollegen liefern.
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