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Die Mauer verdarb den Charakter

von CHRISTIAN SEMLER

Kaum war die Fluchtwelle aus der DDR durch den Mauerbau gestoppt, setzte ein zweiter Flüchtlingsstrom ein – diesmal aus Westberlin. Es flohen: ganze Chefetagen von Großunternehmen, Ingenieure und Ärzte, Heerscharen qualifizierter Facharbeiter, Geistesgrößen und jede Menge intellektuelles wie künstlerisches Fußvolk. Der Schock des Mauerbaus beschleunigte den Abbau der traditionellen Industriezweige. Und die Förderpolitik des Bundes wie des Senats begünstigte die Ansiedlung von Industrien mit einem hohen Anteil an unqualifizierten Arbeitskräften.

Was wurde nicht alles ausgeschüttet, um Unternehmer wie Unternommene an Westberlin zu binden – oder um sie auf dieses angeblich so unsichere Pflaster zu locken. Umsatzsteuererleichterungen, Investitionszulagen, enorm günstige Abschreibungsprojekte im Baugewerbe. Auch die Arbeitskräfte sollten nicht umsonst vor der Gefahr aus dem Osten zittern: Sie wurde durch Lohnsubventionen und Beihilfen bei der Stange gehalten. Noch die Verlegung des taz-Gründungskollektivs zu Ende der 70er-Jahre von Frankfurt am Main nach Berlin verdankt sich diesem Füllhorn.

Dem Schrumpfungsprozess bei Industrie und Dienstleistungen entsprach die Explosion des öffentlichen Dienstes, der schließlich ein Viertel aller Werktätigen umfasste. Deren Löhne und Gehälter tauchten in einem Haushalt auf, dessen Minusseite durch Bundeszuschüsse ausgeglichen wurde. In der Wirtschaft wie im Staatsbereich entstand eine Subventionsmentalität – eine Einstellung, die allem Neuen und jedem Wagnis Feind war.

Sicher hatten die anderen Stadtstaaten Hamburg und Bremen in den 60er-Jahren ebenfalls mit schweren Strukturkrisen zu kämpfen. Sicher wurden auch sie subventioniert, mit entsprechenden Folgen für Filz und Trägheit. Zwei Haltungen waren es aber, die die Westberliner Dagebliebenen von den Hanseaten unterschieden: einmal der für selbstverständlich gehaltene Anspruch, ausgehalten zu werden; und zum Zweiten eine aggressive Weinerlichkeit, die den „Westdeutschen“ immerzu bescheinigte, das Leid wie das Durchhaltevermögen der Westberliner nicht genügend zu honorieren.

Beide Haltungen haben ihren Ursprung in der Nachkriegszeit. Vom Widerstand gegen die SED-Zwangsvereinigung 1946 bis zur Berliner Blockade 1948 bewiesen viele Berliner Stehvermögen und Oppositionsgeist in einem Ausmaß, von dem noch Hannah Arendt anlässlich ihres Berlinbesuchs beeindruckt war. Tatsächlich schauten die Völker der Welt, so wie Ernst Reuter es gefordert hatte, 1948 auf diese Stadt. Von diesem selbstbewussten Stolz zehrten die Einwohner. Aber wie so oft gerann die Erinnerung an einstiges mutiges Engagement zum Mythos, zur Selbstfeier, die aus den vergangenen Heldentaten keinerlei Verpflichtung für die Gegenwart ableitet.

Bestimmend für die politische Haltung der Westberliner Mehrheit nach dem Mauerbau war ein Frustrationserlebnis, das den Kern des Selbstbewusstseins berührte. Die gleichen Amerikaner, die 1948 die Luftbrücke organisiert hatten, konnten und wollten nichts tun, um die Mauer einzureißen. Der 13. August 1961 war eine Lektion in Sachen grausamer Nachkriegsrealität. Er war für Brandt, Bahr und ihre Freunde die Geburtsstunde der späteren Entspannungspolitik. Aber so sehr die Westberliner von dieser Politik profitierten, vom Passierscheinabkommen 1963 bis zu den Ost-West-Verträgen der 70er-Jahre – sie konnten sich mit dem Bedeutungsverlust nicht abfinden, der mit der Entspannungspolitik einherging.

Während der Studentenunruhen erlebte die Idee der Westberliner Einzigartigkeit ihre letzte Hochblüte. Plötzlich waren es linke Taugenichtse, die unverständliche westdeutsche Dialekte sprachen und mit ihren Aktionen das Selbstbild Berlins befleckten – und dafür noch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit einheimsten. Diese Leute gingen so weit, die Schutzmacht USA anzugreifen. Aber verteidigten die Amerikaner, wie Willy Brandt sagte, in Vietnam nicht auch die Freiheit Westberlins?

Im Nachhinein ist es erstaunlich, wie schnell sich die Westberliner in ihrem täglichen Leben mit der Mauer abgefunden haben. Verwandte und Freunde „drüben“ konnten seit 1963 besucht werden. Für das verloren gegangene Umfeld Berlins entschädigte das nahe und seit dem Grundlagenvertrag auch auf sicheren Transitwegen erreichbare Bundesgebiet und Ausland. Eigentlich interessierte man sich nicht besonders für das Schicksal der Brüder und Schwestern jenseits von „Mauer und Stacheldraht“. Dazu trug auch die Gleichgültigkeit der Zuwanderer bei. Entweder hatten sie als ausländische ArbeiterInnen mit dem Berliner Mythos sowieso nichts am Hut, oder sie sogen als künftige Alternative gerade aus der „insularen“ Mauerexistenz Berlins ihre subkulturellen Energien.

Und die Ostberliner, die eigentlichen Leid Tragenden, denen durch den Bau der Mauer die täglich greifbare Alternative versperrt wurde? Der physische Anblick der Mauer blieb ihnen erspart. Psychisch und materiell aber winkten Privilegien, die mit dem Ausbau Ostberlins zur Hauptstadt der DDR verbunden waren. Bei der Vereinigung von West- und Ostberliner SPD sprach Wolfgang Thierse von einer Hochsubventionierung in beiden Teilen der Stadt – und meinte damit die Mentalität. Thierses Einschätzung bewahrheitet sich auch am 40. Jahrestag des Mauerbaus. Beide Hälften der vereinten Stadt trauern dem privilegierten Status zu Zeiten der Mauer nach. Und grenzen sich voneinander ab.

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