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Die ausrasierte Stadtwunde

Die Berliner Mauer war unbequem, ärgerlich – und peinlich. Sie war eine Strafe, die man aus der Wahrnehmung verdrängte. Aber in Zeugnissen lebt sie weiter und ist noch längst nicht abgetragen

Und doch: Der Tag, an dem die Stacheldrähte ausgerollt, die Grenzen gesperrt, die Betonsteine von bewachten Arbeitern aufeinandergeschichtet wurden, war unfassbar. Der Vater war „drüben“, die Schwiegermutter, andere Verwandte, auch Freunde

von LORE DITZEN

Heute fast nur noch existent in Stückchen als Souvenirs oder in größeren Brocken, bunt bemalt, als begehrte Kunsthandelsware: Mauer perdu. Die wenigen erhaltenen Reste lassen nicht mehr erkennen, wie brutal Lebensfäden und Welt zerschnitten wurden: Die dünne Plattenwand an der „Topographie des Terrors“ sieht wie ein Bauzaun aus; auch die „East-End-Gallery“ am östlichen Spreeufer, ein künstlerisches Nach-Wende-Remake der farbigen Protestmalerei auf ihren westlichen Außenfronten, weckt falsche Vorstellungen.

Man muss schon zur Bernauer Straße gehen, um die breit ausrasierte Stadtwunde zu begreifen, so breit wie die weggesprengten Häuser samt Hinterhöfen, wie die in die Luft gejagte Kirche, die platt gemachten Gräber auf einem Friedhof. Die Gedenkstätte dort gibt einen Eindruck von den Ausmaßen des Schnitts, doch fehlen die Wachtürme, die Hundepatrouillen, die Scheinwerfer jener Haftanstalt, die DDR hieß: Deutsche Demokratische Republik. An diesen Namen haben wir uns erst spät gewöhnt. Damals sagten wir: Ostzone, oder einfach Zone. Oder „drüben“.

Damals, als die Mauer gebaut wurde: Die Nachricht im Radio kam wie ein Schock, aber nicht aus heiterem Himmel. Lange schon war Ostdeutschland durch mit Stacheldraht und spanischen Reitern bewehrte Grenzen und Ausreiseverbote von Westdeutschland geschieden, auch Westberlin an den äußeren Rändern vom DDR-Hoheitsgebiet abgesperrt. Schon damals wusste man von Fluchtversuchen mit tödlichem Ausgang. Nur innerhalb der Stadt gab es noch, dank des Viermächtestatus, freien – im Osten durchaus nicht ungehinderten – Verkehr.

Grenzgänger kamen täglich aus Ostberlin zur Arbeit im Westen; wir fuhren „rüber“ und kauften mit günstig getauschten Ostmark in der großen Buchhandlung am Alex die guten billigen Klassikerbücher, die die östliche Kulturpolitik förderte. Gingen ins Theater, trafen Verwandte und Freunde; noch konnten sie auch, wenn sie es trotz der Kontrollen in den ostdeutschen Zügen bis Ostberlin schafften, ungehindert mit der S- und U-Bahn zu uns kommen – so wie die täglich sich mehrenden ohne Gepäck Reisenden, die kamen, um dazubleiben und dann in den Westen weiter zu fliegen.

Dass man „drüben“ nicht leben konnte oder warum man es nicht wollte, wussten wir längst. „Wir“ – zum Beispiel Studenten, die nach dem NS-Totalitarismus die ideologische Unterjochung der Humboldt-Universität nicht ertrugen und 1948 im ruinierten Esplanade-Hotel eine freie Universität forderten – und auch bekamen. Wir in ganz Berlin, die den Aufstand der von immer höheren Leistungen bedrängten Arbeiter an der Stalinallee und ihre Unterdrückung miterlebt hatten – und wir, die später begleitet blieben vom Entsetzen über die blutige Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, 1956. Dieser ganze östliche Machtbereich war unheimlich, beängstigend und fremd – und im Widerspruch zwischen dem Pathos des „realsozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat“ und seiner immer spießiger werdenden Armseligkeit wurde er immer fremder.

Und doch: Der Tag, an dem die Stacheldrähte ausgerollt, die Grenzen gesperrt, die Betonsteine von bewachten Arbeitern aufeinandergeschichtet wurden, war unfassbar. Der Vater war „drüben“, die Schwiegermutter, andere Verwandte, auch Freunde: So wie mir ging es Vielen. Da standen wir, fassungslos, beiderseits der wachsenden Grenze, weinend, winkend und rufend. Die Soldaten mit zum Versteinern dressierten Mienen – wir sollten sie später so bei den Grenzübergängen erleben, wie Automaten – dazwischen.

Das ganze Erlebnisspektrum wurde eingefangen in Berichten und Reportagen; ich war selbst unterwegs in einer Gruppe junger Journalisten, die aus allen europäischen Ländern kamen, ihre Vorbehalte gegen Deutschland oder auch ihre angelesenen marxistischen Neigungen und Parteilichkeiten im „Kalten Krieg“ mitgebracht hatten. Jetzt sahen sie mit eigenen Augen, welche erbarmungslose Gewalt sich mit ihren Illusionen verband. Was aber mir und anderen in den Gesprächen mit diesen Kollegen noch deutlicher wurde, als es bis dahin schon war, hieß, dass auch dieser Gewaltakt, dem Flüchtende zum Opfer fielen, eine weitere Folge des vom nazistischen Deutschland entfesselten Krieges und seines Terrors war.

Es mag auch dieser Aspekt gewesen sein, der im Lauf der folgenden Jahre die Mauer und vieles, was sich hinter ihr an Unterdrückung begab, aus der Wahrnehmung weitgehend verschwinden ließ. Sie war hinzunehmen wie eine Strafe, wie der zuvor schon erlebte Verlust der Heimat im Osten, war eine Peinlichkeit. Und außerdem war sie eine Unbequemlichkeit und ein Ärgernis vor allem dann, wenn – später, nach der Passierscheinregelung – die demütigenden Grenzkontrollen zu bestehen waren. Aber sonst ging man, ging jedenfalls ich nicht hin und stieg schon gar nicht auf eines der hölzernen Aussichtsgerüste, um nach „drüben“ zu blicken. Man war doch kein Voyeur. Fahrten zu Verwandtentreffen in der vergrauten Stadt unternahm man beklommen, wie mit verschlossenen Augen. Auch die Post wurde dünner. Was sollte berichten, wer verängstigt war, was der, dem es so viel besser ging?

Hingegen diente die Mauer – in den Augen der Welt wie auch im eigenen, ironisch gebrochenen Selbstverständnis – für die so bemitleidenswerte Situation der Westberliner. In absurder Verkennung der wahren Sachverhalte erschienen wir als Opfer und konnten es uns doch dabei auf der „Insel der freien Welt“ mit viel Aufmerksamkeit und Unterstützung bedacht durchaus gut gehen lassen. Nein, wir haben uns dann längst nicht mehr sehr um die Mauer gekümmert, höchstens um ihren Attraktionswert als Gemäldegalerie. Und was dahinter wirklich geschah, jedenfalls für die, die mit den Lügen des Staates nicht leben wollten, fand – im Zeichen der Annäherung der beiden deutschen Staaten und eines von Zukunftshoffnungen geprägten sozialistischen Idealismus – nur sporadisch und ganz gewiss ungenügende Aufmerksamkeit.

Die Mauer fiel. Wieder haben wir mit Tränen in den Augen davor gestanden. Jetzt können wir nach „drüben“, sehen die erfrischten Qualitäten der alten großen Stadt, auch ihre – teilweise gewaltsame – Inbesitznahme durch Neues, sehen das Aufblühen junger, kreativer Fantasie, die sich nicht nur auf die Kneipen in Prenzlauer Berg erstreckt. Aber wir sehen auch, was uns verborgen blieb. In Dokumenten, Fotos, Gedenkstätten, Haftanstalten und Stasi-Institutionen. In den Zeugnissen von Menschen, die an ihr litten, lebt die Mauer weiter. Erst unsere Aufmerksamkeit und Zuwendung wird sie abtragen helfen.

Am Freitag, den 17. August, wird die Tondokumentation der 25 Studenten und Jugendfunkredakteure vom Herbst 1961 im Dokumentationszentrum Berliner Mauer, Bernauer Straße, um 19.30 Uhr aufgeführt. Als Gesprächspartner nehmen die ehemaligen Rias-Journalisten Lea Rosh, Herbert Kundler und Peter Schultze sowie die frühere SFB-Kulturredakteurin Lore Ditzen teil

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