„Sie hatten nicht den Mut“

Interview KLAUS-HELGE DONATH

taz: Herr Popow, am 19. August vor zehn Jahren wurde der damalige Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, von seinen engsten Mitarbeitern durch einen Staatsstreich des Amtes enthoben. Wo hat Sie die Nachricht vom Putsch des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ erreicht?

Gawril Popow: Ich war in Kirgisien. Der russische Präsident Jelzin hatte mir ein Telefon mitgegeben, von dem niemand etwas wusste. Er rief mich morgens an und wollte, dass ich in Sibirien eine Notstands- oder eine Art Exilregierung bilde. Ich war aber Moskaus Bürgermeister und wollte unbedingt zurück. Ich ging also zu Akajew, dem heutigen Präsidenten Kirgisiens. Er bot mir eine Regierungsmaschine an, meinte aber, es sei sicherer, einen Linienflug zu nehmen. Er hatte Recht. Seine Maschine mit mir an Bord hätte keine Landeerlaubnis erhalten. In Moskau erwarteten mich vier Bewacher und eine Delegation des KGB, des Inlandsgeheimdienstes. Sie haben mich aber nicht festgenommen.

Die Putschisten waren typische Emporkömmlinge der sowjetischen Nomenklatura. Glaubten Sie damals, es würde denen gelingen, die Geschichte noch einmal zurückzudrehen?

Ich war gegen acht Uhr abends zurück in Moskau und habe alles mir zur Verfügung stehende Wachpersonal sofort zum belagerten Weißen Haus, dem Sitz des russischen Parlamentes, geschickt. Ich war damals fest davon überzeugt: Das Notstandskomitee setzt sich durch, wenigstens am Anfang. Um erfolgreich zu sein, hätten die Putschisten aber Schießbefehl erteilen müssen.

War dieses Zögern vielleicht schon Auftakt zu einem menschlicheren Sozialismus? Nach sieben Jahrzehnten der Zensur hatte Gorbatschow mit „Glasnost“ den Bürgern das Recht auf eine eigene Meinung zurückgegeben.

Nein, es ist viel einfacher. Einer der Putschisten hätte für den Schießbefehl Verantwortung übernehmen müssen. Es fand sich aber keiner. Nicht einmal als Kollektiv hatten sie den Mut. Ein Kommunist ahnt natürlich, was nach dem Blutbad passiert wäre. Das Blutvergießen wäre als Verbrechen gebrandmarkt worden, man hätte den Verantwortlichen vor ein Tribunal gezerrt und ohne Federlesens erschossen. Im kritischen Moment des Kommunismus fand sich niemand bereit, ihn unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten.

Sie sitzen mit einem der Putschisten, Walentin Pawlow, der unter Gorbatschow Ministerpräsident war, im gleichen Unternehmerkollegium.

In dieser Organisation sind alle politischen Kräfte vertreten. Pawlow sitzt neben dem liberalen Ex-Wirtschaftsminister Jassin. Allerdings rechtfertigt Pawlow den Putsch bis heute. Die Mitglieder des Notstandskomitees betrachten sich sogar als geistige Väter des russischen Präsidenten Putin; er setze ihre Pläne nur um, zehn Jahre später ... Alles Unfug, sie hatten kein Konzept und daher auch keine Unterstützung.

Der Putsch scheiterte nach drei Tagen. Jelzin und seine Leute wurden wie Helden gefeiert, das Volk jubelte. Dennoch lachte sich die desavouierte Macht ins Fäustchen. War es nicht so?

Nach dem Putsch habe ich versucht, wenigstens in Moskau ein demokratisches Programm umzusetzen. Ich habe die Chefs von KGB und Polizei gleich ausgewechselt. Auf der sowjetischen Ebene geschah indes nichts. Bei der Polizei, im Geheimdienst, in der Armee und bei den Gerichten hatten dieselben Leute das Sagen – und das ist bis heute so. Ein strategischer Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Im Gegensatz zu den kommunistischen Parteien Osteuropas, die demokratische Kräfte von innen heraus umzuwandeln versuchten, haben unsere Demokraten die KPdSU verlassen. Sie waren aber zu schwach, um eine Alternative zur Macht darzustellen. Der Beweis: Obwohl der Putsch der Nomenklatura fehlschlug, musste sie ihre Positionen nicht räumen. Das erklärt auch, warum die Reformen schlecht umgesetzt wurden.

Eine vernichtende Kritik.

Nein, trotz aller Bedenken haben sich die Verhältnisse im Lande gebessert. Immerhin erhielt ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung die Chance, zwischen Alternativen zu wählen: politisch und wirtschaftlich. Aber die Frage, welches ökonomische Modell wir anpeilen und welcher Stellenwert darin sozialpolitischen Rücksichten zukommt, ist nach wie vor hart umkämpft. Und daher tut sich in diesem Bereich nichts. Seit zehn Jahren bewegen wir uns auf dem Fleck. 1990 hatte die Intelligenz überhaupt keine Vorstellung davon, wie es mit Russland weitergehen sollte. Anders als vor der Oktoberrevolution übrigens. Sie verdammte den Sozialismus in Grund und Boden, und das war’s dann. Natürlich konnten wir in der Sowjetunion unmöglich Perspektiven offen diskutieren. Da der Zusammenbruch der UdSSR die Vorstellungskraft überstieg, beeilte sich auch niemand. Von dem Wandel sind alle überrannt worden. Nur: Danach hat sich auch nichts getan. Jelzin fehlte ein Konzept, und deshalb griff er auf die Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zurück. Aber Putin hat heute auch keins.

Putin hat immerhin einige Reformprojekte durch die Duma gebracht.

Unter dem jetzigen Kremlchef hat Russland in der Tat einen Schritt nach vorn gemacht: Die Gefahr der territorialen Desintegration ist gebannt, und Moskau wird auch weiterhin an der Großmachtrolle festhalten. Ich behaupte nicht, dass der Kreml selbst ein Konzept entwickeln muss. Das ist eigentlich die Aufgabe der Intelligenz. Ein beträchtlicher Teil der Wissenschaftler gefällt sich jedoch in der Rolle von Höflingen. Heute sind Künstler und Schriftsteller näher am Puls der Zeit als so mancher Gesellschaftswissenschaftler.

Warum haben Sie eigentlich Jelzins Team verlassen?

Wir waren in drei Punkten unterschiedlicher Auffassung. Ich wollte eine verfassunggebende Versammlung einberufen, die darüber entscheiden sollte, wie die Institutionen der Staatsgewalt aussehen sollten. Die Abgeordneten des Obersten Sowjets waren dagegen, weil sie ihre Macht verloren hätten, gaben aber Jelzin ihr Wort, ihn zu unterstützen. Zweitens war ich gegen die Auflösung der UdSSR. Die kaukasischen und baltischen Republiken hätte man gehen lassen sollen. Mit den anderen hätten wir einen neuen Modus Vivendi finden können. Schließlich die Wirtschaft: Schocktherapie war der denkbar ungeeignetste Weg für die russische Ökonomie, die auf dem militärisch-industriellen Komplex aufbaute. Die Schocktherapie nützte der Nato und dem IWF. Die Schwerindustrie wurde vernichtet. Millionen wurden arbeitslos und eben nicht zu Demokraten. Ich war dagegen, Jelzin hoffte, Milliardenkredite aus dem Westen zu erhalten. Dass er sich damit täuschte, hat er später begriffen. Mit der Privatisierung von Handel und Dienstleistungen, vielleicht noch der Leichtindustrie, hätten wir anfangen sollen. Stattdessen wurde der lukrative Rohstoffsektor zerschlagen.

Mit Altpräsident Gorbatschow bauen Sie derzeit die Sozialdemokratische Partei Russlands auf. Ihr Erfolg ist bescheiden, aber Sie geben nicht auf.

Die Sozialdemokratie entspricht der russischen Mentalität am ehesten. Uns fehlt aber die soziale Basis. Weder Arbeiterschaft noch Intelligenz sind materiell abgesichert. Die Lage ähnelt dem Revolutionsjahr 1917. Mit Lumpenproletariern ist weder Staat noch Partei zu machen. Wir brauchen daher dringend Hilfe von außen. Kein Geld, sondern logistische Hilfe, Hilfe beim Aufbau eines sozialdemokratisch orientierten Senders. Die Sozialistische Internationale nimmt uns aber nicht ganz ernst, weil sie weder uns noch Russland versteht.

Driftet Russland seit Putins Amtsübernahme in Richtung eines semiautoritären Regimes?

Die Gesellschaft muss jetzt einen antibürokratischen Block bilden. Jelzin war ein Bürokrat. Seine Macht fußte auf dem Kapital der Oligarchie. Auch Putin repräsentiert die Bürokratie. Im Unterschied zu Jelzin glaubt Putins Bürokratie aber, ohne den Rückhalt des Kapitals auskommen zu können. Auf den ersten Blick scheint dieser Ansatz besser, weil er nicht ganz so korruptionsanfällig sein mag. Aber innerhalb der Jelzinschen Oligarchie gab es noch so etwas wie Konkurrenz. Nichts ist schrecklicher als die unbegrenzte Macht einer Bürokratie. Denn sie ist es, die einer demokratischen Entwicklung ohne Kontrolle Riegel vorschieben kann. Diese Gefahr hat unter Putin zugenommen.