yeah! yeah! yeah!: Wandernde Enthusiasten (6): Prima alte Ohren
Kleinjesu im Gehörgang
Manchmal, da geschieht es, dass mich mitten im schwarzen Alltag, mitten in der U-Bahn der Berliner Verkehrsbetriebe plötzlich Wellen der Sympathie ergreifen und ich eine wildfremde Person sofort in den Arm und mit nach Hause nehmen möchte. Ich bin gerührt, überwältigt, außer mir: Der Mensch gegenüber ist alt, männlich, er hat weiche, zerknitterte Haut und so dermaßen wunderschöne, große Ohren, dass mir ganz heiß ums Herz wird. Was für prima alte Ohren es gibt! Welche mit fleischigen, welche mit angewachsenen Ohrläppchen, behaarte und geäderte, durchsichtige, abstehende, knorpelige, spiral- und muschelförmige. Ob Walter Matthaus, Gert Fröbes oder Hans-Dietrich Genschers Ohren: Es gibt keine hässlichen: Je älter, desto besser wird das Ohr.
Es ist ein Geschenk, dass ausgerechnet Ohren diejenigen Organe des Menschen sind, die nie aufhören zu wachsen. Was sich dann besonders bei den ohnehin größeren Ohren des Mannes bemerkbar macht. Das Ohr ist das verletzlichste unserer Sinnesorgane, das wir nicht einfach schließen können, nur notdürftig verstopfen, wenn es uns zu viel wird. Eine Passivität, die manchmal zu komischen Fantasien einlädt. In Würzburg kann man eine von vielen mittelalterlichen Darstellungen bewundern, bei denen die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr geschieht: Zwischen dem Mund Gottes und dem Ohr Marias ist ein Schlauch, und darauf gleitet wie auf einer Rutschbahn ein winziger Jesus vom Himmel zur Erde. Die Empfängnis durch das Ohr ist die Konsequenz des Satzes vom Wort, das Fleisch wird. Durch die Einflüsterungen des Teufels bei Eva kam das Böse in die Welt, Maria ist die Glaubende, die Gottes Wort aufnimmt. Ohr und Uterus stehen in direkter Verbindung.
Michel Serres hat mal gesagt: „Ich horche. Das Gegebene tritt leise an meine Seite. Das Ohr vergrößert sich, bis es die Größe des Amphitheaters erreicht, eine Ohrmuschel aus Marmor. Ein auf dem Boden liegendes Ohr; die Achse vertikal, versucht es, die Harmonie der Welt zu hören.“ Liebenswürdig wie Ohren nun mal sind, wachsen sie bei älteren Menschen dagegen an, dass die Hörkraft schwächer wird. Aber es hilft nichts: Alte Menschen erzählen meistens besser, als sie zuhören.
Ich als moderne Großstadtbewohnerin, die sich in allzu homogenen Szenen bewegt, bekomme leider ziemlich selten große Ohren zu Gesicht. Was mich besonders wehmütig stimmt, seit mir in den letzten Jahren alle drei Großeltern weggestorben sind, die ich noch kennen gelernt habe. Sogar an einem Kaffeekränzchen, kirchlichen Wohltätigkeitsbasaren oder einem Betabend habe ich mir schon mal überlegt teilzunehmen. Und das nach fast dreißig glücklichen Jahren als überzeugte Heidin. Denn nicht nur den integrativen, generationenübergreifenden Ansatz bietet das Christentum, sondern auch manch anderes jenseits von Gott und so weiter, was heute total außer Mode gekommen ist. Meine eigene Oma zum Beispiel hat, wenngleich sie eher kleine Ohren besaß, ohne Unterbrechung seit ihrem ersten Gehalt und auch dann noch, als sie nach dem Krieg ihre Kinder allein satt bekommen musste, ein Zehntel ihres Gehalts an wohltätige Einrichtungen gespendet. Bis sie gestorben ist. Meine andere Oma, auch sie hatte durchschnittliche Ohren, erzog schon zwanzig Jahre vor 1968 meine Mutter antiautoritär. Die durfte, was sie wollte, und musste nichts. Weshalb die bis heute weder kocht, wäscht noch putzt und ihre drei Sonntage pro Woche mit Waffeltüten und Bananenstauden im Bett verbringt. Und mein Opa schließlich war nicht nur gerissen, gerecht, klug und verletzend, sondern auch noch ein derart schöner Mann, dass ich mich manchmal frage, ob mein Freund ihm vielleicht zu sehr ähnelt und ich am bisher noch wenig erforschten Opipus-Komplex kranke. Und – guess what? – er hatte fabelhafte, riesengroße, aufsehenerregende Segelohren. Eben habe ich mal gegoogelt, aber weder Opipus noch Ohrenfetischismus ergab einen Treffer. Von der mittelalterlichen Sexualisierung des Ohres scheint nichts übrig geblieben zu sein.
SUSANNE MESSMER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen