: Wie die USA Völkermord duldeten
Bisher geheime Dokumente belegen: Bei der Ermordung von 800.000 Menschen durch radikale Hutu-Milizen in Ruanda 1994 wussten die USA von Anfang an genauestens Bescheid. Trotzdem widersetzten sie sich einem internationalen Eingreifen
von DOMINIC JOHNSON
Nach Belgien und Frankreich beginnt jetzt auch in den USA die Aufarbeitung des eigenen Versagens beim ruandischen Völkermord von 1994. Das unabhängige National Security Archive veröffentlichte am Montag Dokumente über die US-Politik zwischen April und Juni 1994, als im Anschluss an den Tod des ruandischen Hutu-Präsidenten Juvenal Habyarimana bei einem Flugzeugabsturz Armee und Hutu-Milizen in Ruanda über 800.000 Menschen umbrachten, zumeist Tutsi.
Den Dokumenten zufolge war den USA von Anfang an klar, was sich in Ruanda abspielte. Trotzdem drängten sie in der UNO, die in Ruanda stationierte UN-Blauhelmtruppe abzuziehen. Bereits am 6. April 1994 – dem Tag des Flugzeugabsturzes, als am Abend wütende Soldaten begannen, Oppositionelle zu jagen – meldete Prudence Bushnell, Nummer zwei in der Afrikaabteilung des US-Außenministeriums, ihre Sicht der Dinge: Ruandas Armee wolle die Macht übernehmen, es gebe eine „große Wahrscheinlichkeit verbreiteter Gewalt“.
Am 11. April, als die Massaker in vollem Gange waren, schrieb ein Pentagon-Beamter, dass in Ruanda „ein massives Blutbad (hunderttausende Tote)“ anstehe. US-Analysten sind bisher davon ausgegangen, die USA hätten erst sehr spät gemerkt, was in Ruanda los war und die Ereignisse zunächst nicht verstanden.
Die jetzt veröffentlichten Dokumente beweisen, dass den USA alles bereits klar war, als sie Mitte April 1994 im UN-Sicherheitsrat für den Abzug der in Ruanda stationierten UN-Blauhelmtruppe plädierten, anstatt sie aufzustocken. Die Vorlage des US-Außenministeriums zur Sicherheitsratsdebatte am 15. April benennt die Aussicht auf „weit verbreitete zusätzliche Gewalt in Ruanda“ und macht dann klar: „Die USA glauben, dass die erste Priorität des Sicherheitsrates darin besteht, den Generalsekretär zu beauftragen, einen ordentlichen Rückzug aller UN-Kräfte aus Ruanda durchzuführen.“
Prudence Bushnell stand danach in direktem Kontakt zu hohen ruandischen Militärs, die die Massaker befehligten. Aber außer Appellen hatte sie keine Druckmittel in der Hand. Am 1. Mai fiel in einer Diskussion zwischen Vertretern verschiedener Pentagon-Abteilungen zum ersten Mal das Wort „Völkermord“. Im Protokoll der Sitzung steht: „Vorsicht, Rechtsabteilung des State Department machte sich gestern Sorgen: Feststellung eines Völkermordes könnte US-Regierung dazu verpflichten, tatsächlich etwas zu unternehmen.“ Erst am 21. Mai erlaubte der damalige US-Außenminister Warren Christopher den Gebrauch des Begriffes „Völkermord“ in Bezug auf Ruanda, womit die Täter mit Prozessen rechnen mussten.
Es wurde am 1. Mai auch über etwas gesprochen, was erst sechs Wochen später als unilaterale Aktion Frankreichs Wirklichkeit wurde: Eine Militärintervention zur Schaffung von Schutzzonen in Ruanda, um Flüchtlinge aufzunehmen. Dies wurde vom US-Außenministerium befürwortet, nicht aber vom Pentagon. Das US-Verteidigungsministerium widersetzte sich auch Überlegungen, die ruandischen Rundfunksender zu stören, die Ruandas Hutu zur Ausrottung der Tutsi aufriefen. Dies sei „ineffektiv und teuer“, so eine Stellungnahme vom 5. Mai.
All diese Dokumente wurden zum Teil bereits 1998 der Geheimhaltung entzogen, aber erst jetzt hat das NSA sie publik gemacht. Grund ist die bevorstehende Veröffentlichtung einer umfassenden Analyse der US-Politik in Ruanda in der Septemberausgabe der Zeitschrift Atlantic Monthly. Spätestens dann wird kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die USA Ruandas Genozid bewusst geduldet haben.
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