„Nicht weit!“

Von 1991 bis 1998 arbeitete ich als Sängerin und Schauspielerin in Russland. Als meine Moskauer Freundin und Kollegin Vera mich während einer Gastspielpause auf ihre Datscha einlud, ahnte ich nicht, dass diese Reise mein Leben verändern würde.

Der Weg zur Datscha, den Vera mit „ne daleko“ (nicht weit) beschrieben hatte, gestaltete sich abenteuerlich. Nach einer Fahrt im Schlafwagen kamen wir im Morgennebel um vier Uhr in der Stadt Sassowo an. Irgendein Bekannter Veras brachte uns mit dem Auto 39 Kilometer weiter zum Dorf Demuschkina, wo Vera ein Gummiboot aus ihrem Rucksack zauberte. Mit dem gelangten wir über den ersten der beiden Flüsse ohne Brücke. Weiter ging es zu Fuß. Nach acht Kilometern gelangten wir schließlich an den Fluss von Lipowka.

Ich verliebte mich auf der Stelle in die Atmosphäre des Ortes. Die in die Landschaft getupften Holzhäuser mit ihren geschnitzten, bunt angemalten Fensterrahmen – ich kam mir vor wie in einem der alten russischen Märchenfilme. Auch dem Charme der alten Menschen mit ihrem völlig klaren und einfachen Ausdruck konnte ich mich nicht entziehen. Bereits nach zwei Wochen Urlaub in Lipowka beschloss ich, mir das damals einzig freie Haus des Ortes zu kaufen und von Moskau umzusiedeln. Ich lebte dort acht Jahre während aller Gastspielpausen. Ich kenne die harten Winter und auch die schwülen Sommer mit ihrer in Deutschland unvorstellbaren Mückenplage. Ich habe oft das Erwachen der Landschaft im Frühjahr erlebt und die Farbenpracht des Herbstes. Meine Füße erinnern sich inzwischen an jeden Zentimeter Weg in Lipowka.

Die Menschen haben mich an- und aufgenommen. Ich war mit ihnen auf dem Feld und dabei, wenn jemand starb. Ich kenne ihre Lebensgeschichten, ihre Freundschaften und Feindschaften. Von mir kennen sie nur mein Leben in Lipowka. Der Rest ist für die Alten zu weit entfernt, zu fremd oder zu neu. Ich bin „ihre Maja“ und damit Schluss. Heute lebe ich wieder in Berlin, aber zweimal im Jahr fahre ich nach Lipowka, in meine Herzensheimat. MAJA NOWAK

Unter www.artechock.de/arte/programm/f/razluk.htm gibt es Informationen zum Dokumentarfilm „Rasluka“, der das Leben Maja Nowaks in Lipowka zeigt. Regie: Bernd Reufels