: Forscher in ihrem Element
Improvisation gehört zum Alltag der Wissenschaftler in Dubna. Der Erfolg – etwa in der Tumortherapie – spricht für sich
aus Dubna KLAUS-HELGE DONATH
Der Boden bebt leicht. Millimeter für Millimeter löst sich der Stahlkoloss auf Schienen aus der Verankerung. Mehrere Minuten dauert es, bis die Schleuse den schmalen Eingang zu einem vier Meter langen Tunnel freigibt. Der Durchgang aus Schwerbeton führt ins Innerste des Allerheiligsten: zum Teilchenbeschleuniger des Vereinigten Instituts für Kernforschung (VIK), Dubnas Geburtsstätte und Lebensquelle. 1946 ließ Stalin in einem unberührten Waldgebiet, zweieinhalb Autostunden nördlich von Moskau, den Grundstein für das Kern- und Grundlagenforschungszentrum legen, in dem Wissenschaftler aus dem gerade eroberten Imperium gemeinsam forschen sollten. „Nach zwei Jahren stand die Halle, und der Beschleuniger war betriebsbereit“, erzählt Nikolai Schakun, der Leiter der Abteilung für Physikalische Medizin. „Wozu sie damals in der Lage waren!“ In seiner Stimme schwingt Erstaunen mit. „Fast alles ist noch im Originalzustand.“ Stalin ließ den schwersten Magneten bauen, den die Welt bis dahin gesehen hatte – 7.000 Tonnen wog er. Die Leningrader Kirow-Werke montierten ihn plattenweise, Schicht für Schicht. Der Schriftzug in mattem Gold ist bis heute erhalten. Die 680 Megavolt des Phasotrons bringen noch immer Spitzenleistungen. 120 Kilometer legt ein Teilchen im zyklischen Beschleuniger in 4 Millisekunden zurück.
Der Magnet machte Dubna weltbekannt. Doch wer den Ort auf der Karte suchte, der fand ihn nicht. Dubna gehörte zu den geschlossenen Städten, die Moskau vor dem Klassenfeind versteckte. Eingebettet in dichte Mischwälder zwischen Wolga, Dubna und dem Iwankower Wasserreservoir, war das Terrain wie geschaffen für ein geheimes Laboratorium. Es weckte keine Begehrlichkeiten. Natur und Wissenschaft blieben unter sich.
Das satte Grün hat die Zeitläufte überdauert. Die Stadt gleicht einer offenen Parklandschaft, der bewachte Institutskomplex einer Kuranlage. Wo Putz bröckelt, übt die Natur Nachsicht. Schakun arbeitet seit 1984 in Dubna und ist mit Leib und Seele Wissenschaftler. Heute wird der Beschleuniger erst angeworfen, wenn mehrere Teams Versuchsreihen angemeldet haben und sich die Kosten teilen. „Seit April steht die Anlage still“, bedauert er, „zu Sowjetzeiten lief sie rund um die Uhr.“ Seither hat sich vieles verändert. Die Grundlagenforschung verlor die Rolle des staatlichen Hätschelkinds, und die Rüstungsindustrie, einst zweites Standbein der Stadt und wichtigster Auftraggeber, musste abspecken. Schakun beklagt sich nicht.
Ein echter Enthusiast
Während er neben dem Beschleuniger steht, hält er einen Vortrag über die Synthese von überschweren Elementen. Ein Spezialgebiet des VIK. Das 105. Element des mendeljewschen Periodensystems, das Dubnium, verdankt der Stadt seinen Namen. Im Moment basteln die Physiker an der Synthese der Elemente 114 und 116. 114 hat eine Halbwertszeit von sensationellen 30 Sekunden. Bei 116 ließen sich im Mai das zweite und dritte Atom nachweisen. „Die Stabilisierung“, erklärt Schakun, „wird durch einen quantenmechanischen Effekt verursacht, Elektronen gruppieren sich in unterschiedlichen Energieniveaus.“ Zwischendurch schaut er auf den Geigerzähler. „Strahlung hundertmal über der Außennorm“, murmelt er beiläufig.
Jewgenij Tscherewatenko ist eigens aus dem Urlaub zurückgekommen. Er verkörpert, was die Russen einen enthusiast nennen. Ein Wesen, das über seiner Aufgabe alle weltlichen Bedürfnisse vergisst. Und, wenn nötig, seinen Wagen versetzt, um ein unverzichtbares Messgerät anzuschaffen. Sieben Labors hat Tscherewatenko in den letzten Jahren eingerichtet. Dort werden chirurgisch schwer zugängliche Krebsgeschwüre mit Strahlen behandelt. Meist unter Einsatz von Protonen, die im Vergleich zu Gammastrahlen mit einem Drittel der üblichen Dosis auskommen und keine Nebenwirkungen verursachen. „Bei 70 Prozent der Patienten verläuft die Therapie positiv. Nichts Einzigartiges. 25 Zentren gibt es davon weltweit“, erzählt Tscherewatenko, ohne Luft zu holen. In Dubna kostet eine komplette Behandlung rund 4.500 Mark, ein Bruchteil dessen, was eine Therapie im Westen kostet. Blitzendes Chrom und weiße Großflächen fehlen; in den verliesartigen Kammern des VIK ist neben dem Wissenschaftler der Techniker gefragt. Improvisation wird zum Dauerzustand. Die Patienten stören sich nicht daran. Ihnen wird höchstens mulmig, wenn der Sporn der automatischen Stahltür vor jeder Kammer endgültig in der Wand verschwindet. Tscherewatenko schmunzelt bei dem Gedanken: Hatte nicht Vizedirektor Alexej Sissakian gut gelaunt auf die kleineren Schwierigkeiten hingewiesen, darunter unbezahlte Stromrechnungen? Sobald der Kreml Dubna den Status einer Wissenschaftsstadt verleiht, glaubt Sissakian, werde auch der Strom wieder zum günstigeren Tarif fließen.
Das VIK ist mit 6.000 Angestellten der größte Arbeitgeber in Dubna, gefolgt von der Stadt mit 5.000 Beschäftigten. Anfang der Neunzigerjahre sah es düster aus. Fast alle Unternehmen des Rüstungssektors steuerten dem Bankrott entgegen. Mit einem Schlag saßen 2.500 Mitarbeiter auf der Straße. Wer Arbeit hatte, erhielt keinen Lohn. Pensionäre warteten monatelang auf die Rente. An Grundnahrungsmitteln mangelte es. „Auch die Gesundheitsversorgung brach zusammen, die bis dahin Unternehmenssache war“, erinnert sich Sergej Rjabow, der Chef der Gesundheitsbehörde, „1993 mussten wir aus dem Nichts ein städtisches Gesundheitswesen aufbauen.“
Was seither geleistet wurde, mutet wie ein kleines Wunder an. Geburtsklinik, Dialysezentrum, ein Kinderrehabilitationszentrum und eine ambulante Alten- und Sterbebetreuung richtete die Stadt ein. Daneben entstanden eine Konfliktberatungsstelle für Jugendliche und eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker. Der allgemeine Gesundheitszustand sei aber noch immer nicht zufrieden stellend, sagt Rjabow. Dabei können sich die Ergebnisse durchaus sehen lassen. Die Lebenserwartung ist deutlich höher als im Landesdurchschnitt, die Abtreibungen gingen innerhalb eines Jahres von 2 auf 1,2 pro Neugeburt zurück. Früher konnte nur jeder fünfte Nierenkranke behandelt werden, der Rest wurde seinem Schicksal überlasssen; jetzt gibt es keine Engpässe mehr.
Rjabow sagt, dass der langjährige enge Kontakt zur amerikanischen Partnerstadt LaCrosse Blickwinkel und Mentalität verändert habe. Die Amerikaner hätten Dubna nicht nur mit Know-how unterstützt, sondern tausende Bürger in die USA eingeladen, damit diese sich vor Ort mit dem Gesundheitssystem vertraut machten. Inzwischen ist das Programm ausgelaufen. Jelena Ignatenko, die das gesamte Sozialwesen generalstabsmäßig führt, bedauert das sehr. „Wenn der Austausch fehlt, entwickeln wir uns langsamer.“ Daran ändert auch nichts, dass mittlerweile zahllose Gemeinden Dubna um Entwicklungshilfe bitten. Ein Kontakt nach Europa wäre Gold wert.
Stalins Sockel steht noch
Auf dem Weg in die Geburtsklinik, die zwischen dem alten Industriebezirk Bolschaja Wolga und der Gelehrtensiedlung liegt, lugt plötzlich Wladimir Lenin über die Baumwipfel. Er späht über den Kanal, der Moskau mit der Wolga verbindet. Es ist Russlands größte Leninstatue – 27 Meter ragt sie in die Höhe. Am gegenüber liegenden Ufer steht auch ein Sockel. Stalins Sockel. Sein Granitkopf stürzte bei der Sprengung in die Fluten. Dass Lenin seinen Blick stur auf das Quartier der Gelehrten richtet, während er dem Proletariat in Bolschaja Wolga unbekümmert den Rücken zukehrt, sorgte für manch bittere Anekdote. Der Staat brauchte die Intelligenz, traute ihr aber nie über den Weg. Auch Spitzenkräfte lebten unter erbärmlichen Bedingungen. Physiker Anton erinnert sich, wie er den Nachbarn und Erfinder des Beschleunigers, Wladimir Weksler, im Garten bei der Kartoffelernte beobachtete. Anton hat die Askese verinnerlicht. Geld vom Soros-Fonds steckte er in die Forschung, statt das lecke Badezimmer zu reparieren. Seine Frau ist längst über alle Berge. Als er jüngst ein neues Angebot des europäischen Forschungszentrums Cern in Genf erhielt, wo er längere Zeit gut verdient hatte, schlug er es dankend aus. Warum?
Oxana, die junge Ärztin in der mit allen Raffinessen ausgestatteten Geburtsklinik, in der Frauen vor der Geburt sogar das farbliche Ambiente wählen können, überlegt lange. „Vielleicht begreifen wir langsam, dass wir diesmal etwas für uns aufbauen.“
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