: Bittere Ernte
Noch vor zwanzig Jahren gehörte das andalusische Almería zu den ärmsten Regionen Spaniens. Heute befindet sich hier die weltweit größte Konzentration von Gewächshäusern, aus denen ganz Europa mit Obst und Gemüse beliefert wird: Almería ist reich. Aber das „Wirtschaftswunder“ funktioniert nur, weil es mit der billigen Arbeitskraft illegaler nordafrikanischer Immigranten rechnen kann. Unser Autor war bei der Wassermelonenernte dabei
von FRANCISCO CONDE (Text und Fotos)
Es ist die ideale Sommerfrucht, süß, saftig, preiswert. Zurzeit ist Hochsaison für Wassermelonen. Auf dem Türkenmarkt in Berlin-Kreuzberg schneiden die Händler die wuchtigen Früchte in Stücke, um mit dem leuchtend roten Fruchtfleisch Käufer anzuziehen. Achtzig Pfennig pro Kilo werden für Melonen aus Tschechien verlangt, eine Mark zwanzig für italienische, griechische oder türkische Melonen. Am teuersten sind die spanischen Früchte, bei der Wassermelone „Reina de Corazones“ – „Königin der Herzen“ – liegt der Kilopreis um die zwei Mark. „Aber es lohnt sich“, sagt einer der Händler, „die Melone schmeckt köstlich und hält sich im Kühlschrank eine Ewigkeit.“
Die Königin stammt aus Nijar in der Provinz Almería im südspanischen Andalusien, dreitausend Kilometer südlich von Berlin. Hier, in der trockensten Region Europas mit ihrer Steppen- und Halbwüstenvegetation aus Palmen und Kakteen, hat man das Gefühl, längst in Nordafrika zu sein, und wie um den Eindruck zu bestätigen, sind überall Araber zu sehen. Und eben dort befindet sich auch, auf 35.000 Hektar, die weltweit größte Konzentration von Gewächshäusern.
Ich fahre nach San Isidro, im Herzen von Nijar gelegen, um die Arbeitsbedingungen in den Gewächshäusern zu erforschen. Es ist die Zeit der Wassermelonenernte. San Isidro, eine Siedlung mit niedrigen Ziegelsteinhäusern und schlecht asphaltierten Straßen, steht ganz unter dem Einfluss des so genannten Wirtschaftswunders von Almería: des intensiven Obst- und Gemüseanbaus unter Plastik. Bis vor zwanzig Jahren gab es hier kaum mehr als Schafherden und Olivenhaine. Auf dem sandigen Boden gediehen dank vieler Hingabe und mit wenig Gewinn lediglich Tomaten und Wassermelonen. Heute, nach der Einführung von Plastik zur Abdeckung der Plantagen, zählt die einstmals ärmste Region Spaniens zu den wohlhabendsten in Europa.
Es gibt da nur einen Haken: Die Löhne, die für die Arbeit unter dem Plastik bezahlt werden, gehören europaweit zu den niedrigsten. Spanische Arbeiter sind für offiziell fünfzig Mark pro Tag nicht mehr zu haben. Immigranten haben nun die zweifelhafte Ehre, die Rolle der Helfershelfer für Almerías ökonomische Revolution zu übernehmen: die „Moros“, wie die Nordafrikaner abfällig genannt werden, und die „Rusos“, Arbeiter aus dem Baltikum.
Die Einheimischen in San Isidro sind erstaunt, dass ich, ein Landsmann aus dem reichen Norden, in dieser Gegend nach Arbeit frage. Sie raten mir, es im Lagerhaus der Genossenschaft zu versuchen: Vierzigstundenwoche, soziale Absicherung und eine saubere Umgebung – Privilegien, die nur für Spanier und Frauen gelten. „Die suchen dort verzweifelt nach Landsleuten. Moros oder Rusos sind nicht zugelassen.“ Als ich darauf beharre, dass ich Wassermelonen aus den Gewächshäusern tragen will, heben sie ungläubig ihre Augenbrauen. Morgen früh, sagen sie, soll ich in Manuels Cafeteria in der Pariser Straße sein. „Stell dich auf einen Kampf gegen die Moros ein.“
6.30 Uhr: Der Parkplatz vor Manuels Cafeteria ist mit Autos, Lieferwagen und jungen Nordafrikanern in Arbeitskleidung überfüllt. Es sind ungefähr zweihundert Menschen. Auch die Cafeteria ist überfüllt. Rechts von der Bar stehen die spanischen Bauern – die Arbeitgeber. Links, neben den Toiletten, stehen die Arbeit suchenden Nordafrikaner. Die Spanier trinken ihren ersten Brandy oder Whiskey, rauchen Zigarren und unterhalten sich über die sportlichen Ereignisse des letzten Abends oder den Virusbefall auf einer Tomatenplantage. Die Nordafrikaner schweigen. Als drei von ihnen mit ihren Kaffeetassen zu einem der leeren Spieltische auf dem spanischen „Hoheitsgebiet“ gehen, werden sie von Manuel, dem Besitzer und Wirt, sofort zurückgepfiffen. „He, ihr“, ruft er, „dieser Platz ist reserviert, das wisst ihr doch genau!“
Nicht nur bei Manuel herrscht Apartheid. Alkohol beispielsweise wird in keinem Lokal der Stadt an Nordafrikaner ausgeschenkt. „Schlimmer als ein Moro ist nur ein betrunkener Moro – die drehen dann einfach durch“, sagt Manuel, als sei damit alles erklärt. Zumindest werden bei ihm die Afrikaner überhaupt bedient. Viele Kneipen dürfen sie gar nicht betreten, nicht einmal um Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen.
Irgendwann brechen die Leute in Manuels Cafeteria auf. Die Spanier gehen nacheinander, gefolgt von den Nordafrikanern in Vierer- oder Fünfergruppen, zu ihren Autos und verlassen mit ihnen den Parkplatz. Draußen werden noch andere Gruppen von Arbeitern direkt von der Straße aufgegriffen. „Ich muss mich einer Gruppe anschließen“, geht es mir durch den Kopf, „wenn ich es bis zum Gewächshaus schaffen will.“ Sie stehen sogar an, um in die Autos zu kommen. Innerhalb einer Stunde sind alle Autos abgefahren, und noch immer stehen viele Nordafrikaner auf der Straße: Keine Arbeit mehr für heute. Ein Marokkaner tippt mir auf die Schulter: „Mañana trabajo, amigo“, sagt er mit ironischem Lächeln, „morgen Arbeit, mein Freund“.
Gegen Mittag kehren Arbeiter und Arbeitgeber von der Frühschicht zur Bar zurück. Bier, ölige Tapas, gegrillte Chorizos, Kartoffelsalat in wässriger Majonäse – die Leckerbissen der spanischen Bauern. Ich werde auf einen Mann im spanischen Bereich der Cafeteria aufmerksam, einen fleischigen Kerl, der aussieht, als ob er der Hölle entsprungen wäre. Schwitzend schlingt er seine Schweineleber herunter und spült mit Bier nach. „Arbeitet er im Gewächshaus?“, frage ich Manuel. „Ja. Sein Name ist Pepe.“
Pepe ist Spanier, Analphabet, ohne eigenes Land, ohne Vermögen. Seine einzige Möglichkeit, zu überleben, ist die Arbeit unter dem Plastik. Ein seltsames Schicksal in San Isidro, das nur noch von einem weiteren Analphabeten namens Antonio geteilt wird. Das Duo ist eine Institution in der einheimischen Landwirtschaftsszene, Relikt einer fast ausgestorbenen Spezies: der des spanischen Lohnarbeiters. Aber zwei Leute ergeben noch keine Wassermelonentruppe. Daher müssen Pepe und Antonio jeden Tag zwei oder drei nordafrikanische Arbeiter zu sich nehmen. Meine Anfrage, ob ich mich ihnen anschließen kann, wird ohne Zögern begrüßt. „Nimm noch ein Bier“, sage ich zu Pepe, „es geht auf mich.“
In den frühen Morgenstunden ist die Arbeit im Gewächshaus fast angenehm, die Temperaturen sind noch niedriger als draußen. Für den Job braucht man keine Ausbildung, wirklich nicht. Starke Arme, das ist alles. Es hilft, ein wenig Rugby gespielt zu haben. Die Melonen werden von Arbeiter zu Arbeiter geworfen und auf einen Schubkarren getürmt. Wenn der Karren mit 150 Kilo Früchten voll bepackt ist, wird er an einem Sandweg entlang zum Eingang des Gewächshauses gerollt. An diesem Tag muss ein Lastwagen, der draußen mit einer Gruppe von Aufladern schon bereitsteht, mit zwanzigtausend Kilo beladen werden.
Da die Arbeit mit 1,50 Peseten (knapp zwei Pfennig) pro herausgetragenes Kilo Melone bezahlt wird, beträgt unser Anteil hundert Mark pro Mann für drei bis vier Stunden Arbeit. Kein schlechter Tag, ist die einhellige Meinung – vor allem für den Besitzer. Sein Anteil nach Abzug der Kosten für Löhne, Saatgut, Düngemittel und Pestizide wird sich auf über zehntausend Mark belaufen. Er kann noch mit zwei weiteren Ernten von dieser Pflanzung rechnen, bevor er das Gewächshaus dann im Sommer den Zucchini und im Winter den Tomaten überlässt. Solange Viren oder Insektenplagen sein Geschäft verschonen, kann sein jährlicher Profit aus dieser kleinen Halbhektaranlage gut sechzigtausend Mark erreichen.
„Das Arschloch hat noch nicht mal Wasser mitgebracht“, kommentiert Abdelaziz, das marokkanische Truppenmitglied, an diesem Tag, womit er den abwesenden Arbeitgeber meint. „Is’ gut, wir werden vor Mittag hier raus sein“, beschwichtigt Pepe. „Glaub’ ich nicht“, ist die Antwort des Marokkaners.
Tatsache ist, dass der alternde Pepe und Antonio nicht mehr so in Form sind und nur widerwillig beim schwersten Teil der Arbeit mithelfen: den vollen Schubkarren auf dem Sandweg vorwärts zu schieben. Andauernde Streitereien mit den Arabern verzögern die Arbeit. Um 13 Uhr, zur angestrebten Zeit, um bei Manuel kaltes Bier die Kehle herunterzuspülen, stehen noch mehrere tausend Kilo Wassermelonen zum Herausfahren auf der Terrasse. Der wartende Lastwagenfahrer wird auf seinem Handy angerufen: Das Obst sollte schon längst unterwegs sein. „Schneller!“, schreit er uns vom Eingang aus zu.
Inzwischen ist die Temperatur unter dem Plastik auf mindestens 45 Grad angestiegen. Ich fühle mich am Rande des Bewusstseins. Es fehlt einfach die Luft zum Atmen. Jedes Mal, wenn ich dem Schubkarren einen weiteren Stoß gebe, habe ich ernsthafte Zweifel, ob ich bis zum Eingang durchhalte. Ich habe auch Angst um Pepe. An seiner fleischigen Gestalt läuft der Schweiß herunter, sein Gesicht ist wie versteinert, die Lippen sind trocken, der Atem geht schwer. Er sieht aus wie kurz vor dem Herzinfarkt. Der missmutige Lastwagenfahrer treibt die Mannschaft mit einer Bierdose in der Hand vom Eingang her an. Dann gibt der Marokkaner auf: Warum soll er den Schubkarren länger schieben, als er muss, ohne dafür etwas zu bekommen? „Was will der eigentlich?“, erregt sich Pepe. „Hab’ ich ihm etwa nicht den Job besorgt? Ich wünschte, ich wäre nicht auf diese Moros angewiesen.“
Wir fahren zurück zu Manuel, zusammengedrängt auf der Ladefläche eines rumpeligen Lieferwagens, eingequetscht zwischen gefährlich aussehenden Containern mit einer Substanz namens „Hormoprim“. Mir fällt auf, dass meine Hände, Unterarme und die Brust mit einer klebrigen Schicht bedeckt sind, einer Mischung aus Schweiß und der Substanz, die einige Früchte bedeckte. „Das ist die Scheiße der weißen Fliege“, klärt Pepe mich auf. „Manchmal verfehlen sie einige Stellen mit ihren Pestiziden.“ Dabei ist der Pestizideinsatz in Almería exorbitant. Nach den Daten des Europäischen Bürgerforums wurden 1999 rund fünfzig Millionen Euro für Pestizide und Düngemittel ausgegeben.
„Übrigens“, sagt Pepe, „wir haben noch ein anderes Gewächshaus mit 15.000 Kilo morgen früh. Kommst du mit?“ – „Klar“, antworte ich und stehe im Geist bereits unter einer kalten Dusche. Noch nie habe ich so sehr eine Dusche gebraucht. Aber in den Unterkünften der Arbeiter gibt es weder einen Wasseranschluss noch Elektrizität. Meist liegen die schäbigen Hütten mehr als fünf Kilometer außerhalb der Stadt, nicht einmal einen Brunnen gibt es in der Nähe.
Auch mit Arbeitspapieren sieht es schlecht aus. Fast alle Arbeiter, die sich morgens bei Manuel versammeln, sind illegal. Für sie ist es genauso aussichtslos, jemals Papiere zu bekommen, wie für die Bauern, spanische Arbeiter oder legale Immigranten für die Knochenjobs im Gewächshaus zu finden. „Die Regierung in Madrid hat die Wahl: Entweder geben sie die benötigten Papiere, oder sie gehen nach dem Gesetz und schmeißen all diese Leute aus dem Land“, sagt ein Gewächshausbesitzer. „Aber dazu haben sie nicht den Mut. Denn das würde bedeuten, dass kein Obst mehr auf den Markt kommt.“
Dabei sind die Bauern alles andere als unzufrieden mit der Situation. Der illegale Status macht die nordafrikanischen Arbeiter zu billigen, ausbeutbaren Arbeitskräften. Bei Bedarf werden sie einfach abgeholt und nach getaner Arbeit bezahlt. Was danach kommt, ob es am nächsten Tag wieder Arbeit gibt oder nicht, wie die Lebensbedingungen der Arbeiter sind – all das muss die Arbeitgeber nicht im Geringsten scheren. „Das ist reinste Sklaverei“, sagt Miguel Cano von der Sindicato Unitario. Seine Gewerkschaft unterstützt die Besetzung mehrerer öffentlicher Gebäude in der Nachbarprovinz Huelva durch nordafrikanische Immigranten, die für ihre Forderung nach Arbeitspapieren in den Hungerstreik getreten sind.
Etwa fünfzigtausend Immigranten sind in den vergangenen zwanzig Jahren nach Almería gekommen, zumeist junge, allein stehende Männer aus dem Maghreb. Seitdem selbst in der Haupterntesaison nicht mehr alle Arbeit finden, hat sich ihre Situation noch verschlechtert, und der Rassismus unter den Einheimischen wächst. „Jeder weiß, dass König Hassan die Gefängnisse geöffnet und den ganzen Dreck über die Straße von Gibraltar zu uns geschickt hat“, sagt einer in Manuels Cafeteria. „König Hassan ist doch tot“, sagt ein anderer. „Egal, erinnere dich nur an El Ejido.“
El Ejido, die Nachbarstadt von San Isidro, ist das düstere Symbol für den zunehmenden Rassismus in der Region. Nachdem im Februar vorigen Jahres ein Marokkaner ein einheimisches Mädchen getötet hatte, machte der lokale Mob wahllos Hatz auf alle Nordafrikaner. Die Polizei griff nicht ein. Nach tagelangem Wüten blieben hundert Verletzte und Schäden in Höhe von sechs Millionen Mark zurück.
Auch mehr als ein Jahr danach sind die Anstifter der Hetzjagd noch immer nicht festgenommen worden, kein Politiker musste sich dafür verantworten, an dem rechtlosen Status der Immigranten hat sich nichts geändert. Stattdessen preist der rechtsgerichtete Bürgermeister Juan Enciso die Verstärkung der Polizeipräsenz als Integrationsmaßnahme. Sein neuester Vorschlag: 25 Millionen Mark zu investieren, um die Immigranten seiner Gemeinde in der Nähe ihrer Arbeitsplätze unterzubringen – also sehr weit außerhalb der Stadt. Dadurch, so Enciso, könnten sich die Arbeiter den Pendelverkehr sparen. Die Opposition spricht von „perfekt geplanter Apartheid“.
„Xenophobie und Rassismus wurden mit dem Aufruhr institutionalisiert“, sagt Mercedes García, die Leiterin der Organisation progressiver Frauen. Nachdem sie sich kürzlich in der einflussreichen katalanischen Zeitung La Vanguardia entsprechend geäußert hatte, erhielt sie am folgenden Tag meinungsstarke Unterstützung von der führenden spanischen Zeitung El País. Das trifft El Ejido an einer empfindlichen Stelle, da die Einheimischen Touristen aus Spanien zum Strandurlaub erwarten. Seit der Hatz auf die Immigranten ist die Zahl der Besucher stark gesunken.
Zahlreiche Verwandte und Freunde haben sich seitdem von García abgewandt. In der Lokalzeitung La Voz de Almería wird sie als „dialektische Terroristin“ und „Möchtegern-Rosa-Luxemburg“ bezeichnet. „Sie ist bloß eine Hure, die mal richtig gefickt werden will. Und sie wird es bekommen, ganz sicher“, sagt einer der Männer bei Manuel. Das Gelächter seiner Kumpel ist bis auf die Straße zu hören.
Wie ich kommt auch Roman Estevez, der Gemeindepriester, aus dem iberischen Norden. Einen großen Teil seiner Zeit verbringt er damit, Karten und Domino im Seniorenclubhaus zu spielen. Die Freizeitmöglichkeiten in der Umgebung, meint er, seien eben nicht gerade reichlich.
Kultur in San Isidro? Ich würde eher sagen: Agrikultur“, lacht er lauthals über seinen eigenen Humor. Trotz der Langeweile, so Pater Estevez, sei seine Gemeinde ein wahrhaft interessantes anthropologisches Beispiel – jedoch eher im negativen Sinne. „San Isidro ist eine Mischung aus Ignoranz und Geld“, findet er. „Um Tradition und soziale Strukturen hat sich hier nie jemand gekümmert. Das Ergebnis ist eine reaktionäre Gesellschaft ohne Rückgrat.“
Die meisten Gewächshausbesitzer in Almería sind Siedler, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor dem Elend in den bitterarmen Bergregionen flohen. Auch danach durchlebten sie noch Jahre der Armut und hausten in ebenjenen Hütten, in denen heute die Immigranten untergebracht sind, bevor sie ihre Stadt aufbauten. Insgesamt sehen die Einheimischen in ihrem Erfolg den Lohn harter Arbeit und hartnäckigen Sparens. Dass sie selbst früher genau solche Elendsflüchtlinge waren wie heute die Immigranten, kümmert sie so wenig wie die Tatsache, dass ihr „Wirtschaftswunder“ ohne den Beitrag der ausländischen Arbeiter nicht möglich gewesen wäre. In ihren Augen haben die Moros und die anderen lediglich ihre Arme eingesetzt, so wie ein Schubkarren seine Räder einsetzt. „Die Immigranten werden als Werkzeuge betrachtet und dementsprechend behandelt“, sagt der Schriftsteller und Anthropologe Pepe Criado, der in El Ejido lebt.
Dennoch haben es einige Immigranten besser als andere. Die Litauer zum Beispiel. Arbeiter aus dem Baltikum stellen in Nijar die zweitgrößte Gruppe der Einwanderer, nach den Marokkanern und vor Arbeitern aus dem Afrika südlich der Sahara und aus Ecuador. Aber die meisten Rusos bekommen sofort Arbeitspapiere und werden als Mieter in Apartments oder gut klimatisierten Hütten angenommen. „Sie sind sauberere und gebildetere Leute“, meint ein Hauseigentümer, der Osteuropäer, aber keine Araber als Mieter akzeptiert. „Außerdem sind sie auch Christen.“ Einige Litauer, sagt er, hätten sogar als Büßer an den Prozessionen während der Osterwoche irgendwo in der Provinz teilgenommen. Religion hat ganz offensichtlich eine Schlüsselfunktion in dem Land der Moros und Cristianos.
Der wirtschaftliche Erfolg der Region zieht noch immer Siedler aus anderen Teilen Andalusiens an. San Isidros Einwohnerzahl von dreitausend Menschen dürfte sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Überall am Stadtrand wird gebaut, Apartment- und Einfamilienhäuser mit Garten für den Mittelschichtsgeschmack. Auch eine neue Schule entsteht. Aber nirgendwo plant man Wohnmöglichkeiten für die schätzungsweise tausend nordafrikanischen Immigranten ein. Sie kommen einfach nicht vor. „Die sozioökonomische Situation in der Region“, sagt Antonio Páez von der Gemeindeverwaltung, „ist eine Zeitbombe.“
Außerhalb der Stadt, dort, wo die Gewächshäuser stehen, hat man den Eindruck, am Ende der Welt zu sein. Überall Plastik. Ein gigantisches Plastikmeer. Neben den Gewächshäusern liegen ausgefranste Plastikstücke am Rand des Wegs oder flattern an Strommasten und Stromkabeln im Wind. Neue Plastikrollen lagern hinter den Zäunen. Alle Reste von Natur werden nach und nach von der Flut der Gewächshäuser verschluckt. In den Wasserreservoirs, mit denen jeder Bauernhof ausgestattet ist, schwimmen die leeren Plastikcontainer für Düngemittel und Pestizide. Große Hunde streunen herum. Wer genauer hinschaut, kann an ihnen eine der letzten Spuren von Natur erkennen: riesige Zeckenschwärme.
Doppelt so viel Pestizide und dreimal so viel Düngemittel wie in Holland sind in Almería im vorigen Jahr eingesetzt worden. Es geht um Quantität, um Massenproduktion. Es geht darum, den Verkaufsrekord des vorigen Jahres von zwei Milliarden Mark zu überbieten. Egal, ob die „Königin der Herzen“ wenig Vitamine und Mineralstoffe in ihrem dunkelroten Fleisch birgt. Egal, ob Gier, Ausbeutung und Rassismus an ihr haften.
„Chemikalien?“, fragt der türkische Händler auf dem Markt in Berlin-Kreuzberg. „Ist doch egal. Aber schauen Sie mal – ohne Kerne! Sehen Sie? Einfach perfekt.“
Aus dem Englischen übersetzt von Carmen Becker / Verena KernFRANCISCO CONDE, geboren im nordspanischen Kantabrien, ist freiberuflicher Fotojournalist und Autor. Zurzeit lebt er in Berlin. Die Arbeit in den Gewächshäusern von Almería hat er fast einen Monat durchgehalten
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