: Dunkle, feige Momente
Die New York Times wusste vom Holocaust, hat es aber versäumt, Alarm zu schlagen. Anmerkungen zum 150. Geburtstag des Renommierblattes
von EVA SCHWEITZER
„Hitler tut viel für Deutschland: Die Einheit der Deutschen, die Zerstörung des Kommunismus, sportliches Training für die Jugend, die Erschaffung eines spartanischen Staates, belebt von Patriotismus, die Beschränkung der parlamentarischen Regierung, die so gar nicht zum deutschen Charakter passt, der Schutz des Rechts auf Privateigentum, das ist alles gut – außer einer Sache: der Verfolgung und praktischen Ausweisung der Juden.“
Mit diesen Zeilen rezensierte James Gerard in der New York Times Hitlers Schrift „Mein Kampf“, die im Oktober 1933 in den USA erschien – als in Deutschland bereits Kommunisten und Sozialdemokraten in Konzentrationslager gesperrt wurden. Die NYT schätzte nicht nur Hitler falsch ein. Sie versäumte es auch, die USA wachzurütteln, als die Nazis die europäischen Juden ermordeten. Sogar als das US State Department 1942 Informationen über die Wannseekonferenz bestätigte – dass Hitler die Ausrottung der Juden plane –, vermeldete die NYT das nur auf Seite 10.
Im Januar 1944 rief schließlich Henry Morgenthau, Präsident Roosevelts Finanzminister, selbst beim NYT-Verleger Arthur Hays Sulzberger an. Morgenthau fragte ihn, ob ein „besonderes Interesse“ die NYT davon abhalte, das von Morgenthau geschaffene „War Refugee Board“ zu unterstützen, das jüdische Flüchtlinge aus Europa retten sollte. „Morgenthau vermutete, dass Sulzberger die New York Times nicht als jüdische Zeitung erscheinen lassen wollte und deshalb solche Meldungen unterdrückte“, sagt die Journalistikprofessorin Laurel Leff, die die Aufzeichnung in Morgenthaus Archiv fand.
Es sollte mehr als fünfzig Jahre dauern, bis sich das angesehenste Blatt der USA dem schmerzlichen Thema stellte. Im April 2001 stand Arthur Sulzberger jr., Verleger der New York Times, auf der Bühne eines Broadwaytheaters und trug den Rechenschaftsbericht für die Aktionäre vor.
Der Enkel Arthur Hays Sulzbergers referierte über die Jahresbilanz, den Ausblick auf das neue Jahr und das Internetgeschäft. Und dann sagte er: „Im September dieses Jahres wird die New York Times 150 Jahre alt. Wir werden das feiern – aber wir werden uns auch den großen Fehlern stellen, die wir gemacht haben, darunter vor allem, dass wir die Welt nicht über den Horror des Holocaust informiert haben.“ Noch heute hält sich selbst bei den Redakteuren der NYT der Mythos, man habe damals nichts geahnt. „Woher hätten wir das wissen können?“, fragte Deutschlandkorrespondent Roger Cohen im Februar vorigen Jahres in Berlin.
Tatsächlich war nicht nur die NYT, sondern die gesamte US-Presse damals recht gut informiert über das, was in Deutschland geschah. Zwischen 1933 und Ende 1941 arbeiteten allein im Berliner Büro der NYT sieben Journalisten. Auch die Washington Post, die Chicago Tribune, die Los Angeles Times, CBS, AP und UPI hatten Korrespondenten im Deutschen Reich. Erst Anfang 1942, als Hitler nach dem Angriff auf Pearl Harbor Amerika den Krieg erklärt hatte, wurden die US-Korrespondenten unter Hausarrest gestellt, im Mai 1942 wurden sie ausgewiesen. Von diesem Zeitpunkt an berichteten Guido Enderis und Daniel Brigham für die NYT aus Basel, wobei sie deutsches Radio und deutsche Zeitungen auswerteten.
Noch unmittelbar nach der Machtübernahme war die NYT Hitler gegenüber nicht sonderlich kritisch gesinnt. Der Berliner Büroleiter Frederick Birchall sagte im März 1933 in einem Radiobeitrag für CBS, Hitler sei kein Diktator. Er sei Vegetarier, rauche und trinke nicht, arbeite hart und habe sein ganzes Leben der nationalsozialistischen Bewegung gewidmet. Vier Monate später wurde Hitler von der NYT-Reporterin Anne O’Hara McCormick interviewt. Er sagte ihr, er bekämpfe in erster Linie nicht die Juden, sondern Kommunisten und ähnliche destruktive Elemente – ein Ziel, mit dem die NYT durchaus sympathisierte (das Blatt hat in den Fünfzigerjahren während der McCarthy-Ära Leute entlassen, die als Kommunisten verdächtigt wurden).
Dazu kam, dass die US-Presse in Berlin unter Kuratel der amerikanischen Botschaft stand; die drängte die Journalisten, den Ton gegenüber dem NS-Regime zu mäßigen. Im Gegenzug ordnete Goebbels’ Propagandaministerium an, die deutsche Presse dürfe Roosevelt nicht kritisieren. Erst mit der Bücherverbrennung 1935 wurde der Ton kritischer. In den folgenden Jahren konnten US-Journalisten beobachten, wie Juden den gelben Stern tragen mussten, wie sie enteignet und – durch die Nürnberger Gesetze – entrechtet wurden.
Vor allem die „Reichskristallnacht“ löste einen Aufschrei in der amerikanischen Presse aus. Aber dann ließ die Aufmerksamkeit wieder nach, obwohl US-Journalisten weiter in Berlin präsent waren. So beobachtete NYT-Reporter Percy Knauth 1941, wie Juden in Berlin zusammengetrieben und in Züge verladen wurden. Im gleichen Jahr besichtigten mehrere seiner Kollegen Konzentrationslager in Frankreich und machten dort sogar Fotos.
Die Berichte passierten nur schwer das Nadelöhr der Zentrale in New York. So stand im Juni 1942 in der NYT, dass siebenhunderttausend polnische Juden ermordet worden waren und dass Gaskammern existierten – als Kurzmeldung auf Seite 5 unter der schmalen Überschrift: „Jew’s Toll 700,000“. Auf der Titelseite derselben Ausgabe gab es eine große Geschichte darüber, dass der New Yorker Bürgermeister seine Schuhe für den Krieg gespendet hatte.
Als die New York Times über den Aufstand im Warschauer Ghetto schrieb, erwähnte sie nicht, dass es um Juden ging. Selbst nach dem Krieg schrieb die Zeitung über die Befreiung des KZ Dachau, ohne das Wort „Jude“ zu verwenden. „Unsere Berichterstattung damals war falsch, sowohl moralisch als auch journalistisch“, räumt Exchefredakteur A. M. Rosenthal heute ein.
Woran lag das? Vor allem an Verleger Arthur Hays Sulzberger, der, selbst Jude, nicht wollte, dass die NYT als jüdische Zeitung wahrgenommen würde. Denn noch bis in die Sechzigerjahre war Antisemitismus in den USA stark verbreitet. Juden war die Aufnahme in bessere Clubs verwehrt, es gab sogar Strände, an denen „Hunden, Juden und Negern“ der Zutritt verboten war.
In der Ausstellung des Freedom Forum (siehe Randspalte) heißt es lapidar: „Auf ein starkes antisemitisches Klima in den USA reagierend, fürchtete Sulzberger einen gesellschaftlichen Rückschlag, aber auch einen Rückgang der Auflage, falls die Zeitung jüdische Angelegenheiten zu auffällig und zu oft präsentierte.“ Diese Haltung teilte sich auch der Redaktion mit. „Es gab kein Schild an der Wand, man solle den Holocaust herunterspielen, aber manchmal werden Dinge nicht gesagt, sondern einfach getan“, sagt Rosenthal.
Die NYT unterstützte auch die restriktive Flüchtlingspolitik der USA. Von den USA könne heutzutage nicht mehr erwartet werden, dass sie diesen „historischen Service“ der Flüchtlingshilfe wieder aufnähmen, hieß es in einem Editorial im November 1938. Als ein Jahr später das Schiff „St. Louis“ mit neunhundert Menschen an Bord wochenlang vor Miami ankerte, bis es nach Deutschland zurückkehren musste, beklagte die NYT zwar das „sorry welcome“, drängte aber Präsident Roosevelt nicht, die Passagiere zu retten.
Als sich Roosevelt 1940 weigerte, französische Juden, die das Vichy-Regime abschieben wollte, in den USA aufzunehmen, zeigte die NYT dafür Verständnis. Sulzberger weigerte sich auch, den Theaterkritiker Alfred Kerr einzustellen, worum ihn Albert Einstein gebeten hatte – politische Artikel eines Flüchtlings aus Deutschland zu drucken hielt er für unklug.
Jüdische Zeitungen in den USA protestierten gegen diese Haltung; der Jewish Daily Forward attackierte den Verleger. Organisationen schalteten Anzeigen in der NYT, um auf den Holocaust aufmerksam zu machen. Die New Yorker Park Synagoge zog ihre Annoncen in der NYT zurück und inserierte stattdessen im New York Herald. „Wir fahren besser mit einem Nichtjuden, der geradeheraus ist, als mit einem seelenkranken, ängstlichen Juden“, schrieb deren Rabbi Milton Steinberg.
Bislang hat sich nur A. M. Rosenthal kritisch damit auseinander gesetzt. „Vor einigen Monaten“, schrieb er 1996, „bat Verleger Arthur Sulzberger jr. ein paar seiner Redakteure zusammen, um herauszufinden, wie das hatte geschehen können. Auch Elie Wiesel war eingeladen, als ob er unseren dunklen Moment hätte erklären können. Aber es gibt keine Notizen mehr, keine Redakteure oder Manager, die am Leben wären. Wir kamen zu der Annahme, dass sich die New York Times selbst eingeredet hat – wie es auch die Linie der Alliierten war –, dass die Wahrheit über den Holocaust zu erzählen bedeutet hätte, den Sieg zu riskieren. Nur: Wieso das den Sieg riskiert hätte, war uns nicht klar.“
In einem allerdings ist sich Rosenthal sicher: „Hätte die New York Times den Holocaust damals groß herausgebracht, hätte sie etwas bewirken können.“
EVA SCHWEITZER, 42, lebt in Berlin und New York
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