: Anti-Atomkraft-Lieder reichen nicht
Der Boom der Windenergie in Deutschland schafft neue Berufe und Arbeitsplätze. Beispiel: Christof Schwarz. Der Ingenieur überprüft die Technik von Windkraftanlagen. Werden Mängel entdeckt, profitieren davon letztlich auch die Hersteller
„Ich habe meinen Traumberuf verwirklicht“, freut sich Christof Schwarz. Während er dies sagt, zurrt er die Sicherheitsgurte über seinem ölverschmierten Blaumann fest. Dann knirscht die senkrecht stehende Aluleiter unter jedem Schritt des Ingenieurs. Nach 60 Metern Aufstieg erreicht der Gutachter seinen Arbeitsplatz: den Turm einer Windkraftanlage. Dort betrachtet er stirnrunzelnd die abgewetzten Zahnräder im Getriebe.
Bereits Anfang der 80er-Jahre engagierte sich Schwarz in seiner fränkischen Heimatstadt Schlüsselfeld gegen die Nutzung der Atomenergie. „Als unsere Lokalzeitung eine Demo gegen die Wiederaufbereitungsanlage ankündigte, bin ich nach Wackersdorf gefahren.“ Komischerweise war man dort aber nur zu siebt. „Wir sind in die nächste Kneipe gegangen und haben Anti-Atomkraft-Lieder gesungen – leider hatte die Kellnerin etwas dagegen.“ Da sei ihm klar geworden, dass es wenig nützt, nur zu protestieren. Von nun an wollte er selbst an Alternativen arbeiten.
Auf seiner Checkliste notiert der Maschinenbauer den Getriebeschaden. Seit über einem Jahr arbeitet der Franke als selbstständiger Sachverständiger in der Gutachtergemeinschaft 8.2. Das heutige Gutachten hat der Betreiber der Anlage in Auftrag gegeben, weil die Garantiezeit in Kürze ausläuft. Angesichts der Investition von einst zwei Millionen Mark wird das Kraftwerk komplett vom Fundament bis in die Flügelspitzen überprüft. Außerdem kontrolliert der Sachverständige Windenergieanlagen bei ihrer Aufstellung und danach im gesetzlich vorgeschriebenen Vierjahresrhythmus.
„Bundesweit überprüfen rund 150 Experten die Sicherheit der Anlagen“, schätzt Carlo Reeker, Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie (BWE). Die Branche boomt. Seit Mitte der 80er-Jahre die erste Windkraftanlage bei Osnabrück Strom in das Netz speiste, ist ihre Zahl nach Angaben des BWE auf mehr als 9.500 gewachsen. Damit seien rund 30.000 Arbeitsplätze entstanden.
„Der Hersteller dieser Anlage hat früher Schiffe gebaut, das merkt man“, stöhnt Schwarz beim Öffnen der schweren Dachluke aus Stahl. Kritisch mustert er die dreiflügligen Rotoren im Windpark Bullenberg. Am Rande des ansonsten brachliegenden Geländes zerfällt eine Fahrzeughalle auf dem ehemaligen Übungsplatz sowjetischer Truppen bei Magdeburg. Seit zwei Jahren erzeugen hier 37 Anlagen Strom. Momentan regt sich bei strahlendem Sonnenschein kaum ein Lüftchen. Der Ingenieur muss warten, bis genug Wind aufkommt, um seine Prüfungen fortsetzen zu können.
„Wenn ich bei Schneesturm durch ein fingerdickes Stahlseil gesichert am Rotor einer Anlage hänge, frage ich mich, was mich wohl geritten hat, mir ausgerechnet diesen Job auszusuchen“, sinniert der Ingenieur. Trotzdem möchte er mit keinem seiner Studienkollegen tauschen, die den ganzen Tag im Büro sitzen. „Nur Theorie ist nichts für mich.“ Allerdings verstehe er nicht, warum „einige Betreiber das Ende der Garantiefrist wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft“. Da solle dann mitunter „trotz eisiger Kälte und Windgeschwindigkeiten von 50 Stundenkilometern ein Gutachten bis vorgestern erstellt werden“.
Bereits zu Beginn seines Maschinenbaustudiums an der Berliner Technischen Universität arbeitete Schwarz in einem studentischen Seminar über Windenergie. Seinen Professoren seien solche Ideen jedoch nicht geheuer gewesen, und sie weigerten sich, Leistungen aus diesem Bereich anzuerkennen. Der Franke blieb hartnäckig – und konnte letztlich sein Studium mit einer Diplomarbeit zu den Rückbaukosten von Windenergieanlagen abschließen.
Das Tagespensum am Bullenberg ist geschafft; die Checkliste ist komplett. Schwarz macht sich auf den Heimweg nach Berlin. Bevor er wieder in luftige Höhen klettert, müssen jedoch die Berichte verfasst werden. Auf 25 Seiten werden dem Hersteller der Anlage detailliert die Mängel erläutert. Der wird dann erfahren, dass alle überprüften Getriebe bereits nach knapp 2 Jahren schadhaft sind – eigentlich sollten die Anlagen 20 Jahre lang Strom produzieren. „Dem Hersteller wird das Ergebnis nicht gefallen“, vermutet Schwarz. Doch würde der von der Aufdeckung der Mängel auch profitieren und das Produkt verbessern, denn „es treten meist die gleichen Probleme in einer Baureihe auf“.
Im Laufe seiner Arbeitswoche stieg der Gutachter insgesamt einen halben Kilometer auf Leitern in die Höhe. „Das ist normal in dem Job“, erklärt Schwarz und fügt verschmitzt hinzu: „Da brauche ich kein Fitness-Studio mehr.“ Wenn der Ingenieur über weitere Pläne spricht, bekommt er leuchtende Augen. „In Spanien wird die Windenergie mit einem enormen Tempo ausgebaut. Wir haben deshalb schon ein Büro in Barcelona eröffnet.“ Seine Ziele sind klar: „Ich will daran arbeiten, Atomkraftwerke komplett überflüssig zu machen.“
STEFAN KNOBLICH
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