: Eine elegante Einladung zum Dialog
Thomas Meinecke schreibt an seinem Projekt der postkolonialen Literatur weiter: Sein neuer Roman „Hellblau“ liest sich oft genug wie ein Bastard aus Detektivgeschichte, Science-Fiction und Historienroman. Was ihn glaubhaft macht, ist, wie er das Vorgefundene mit Schick und Begeisterung vermittelt
von SUSANNE MESSMER
Postkoloniale Literatur hat keine Sehnsucht mehr nach Metaerzählungen. Sie braucht keinen Plot, keinen Spannungsbogen, keine Psychologie und nicht mehr das eine, große Identifikationsangebot, das Helden in Herzen schließt. Sie verlangt weder von ihren Autoren noch von ihren Figuren Saft und Kraft, also erlebt haben zu müssen, wovon sie erzählen. Authentizität und Bürgschaft, darauf pfeift sie. Beobachtungen erster Ordnung, auch darauf kann sie locker verzichten. Stattdessen geht es ihr darum, Identitäten als konstruierte zu beschreiben, die sich je nach Kontext ändern können. Konsistente Kategorien wie Nation, Geschlecht oder „Rasse“ entlarvt sie so lange als erfunden, bis alle festen Bestimmungen und Bedeutungen ins Schwimmen geraten. Die Welt gilt ihr als unendliche Quelle von Vieldeutigkeit, die es darzustellen gilt. Die in ihr lebenden Figuren sind Migranten, Cyborgs und Aliens mit fragmentierten, flatterhaften, schillernden Identitäten, die weder eindeutig, naturgegeben und unveränderbar sind, sondern frei wählbar. Deshalb bedeutet postkoloniale Literatur ein Haufen Arbeit. Will man Spaß mit ihr haben, braucht es vorher die totale Neudefinition von Spaß. Vielleicht ist das der Grund, warum einem zum Stichwort postkoloniale Literatur in Deutschland nur wenige Namen einfallen – schon gar nicht aus den Reihen der so genannten Popliteratur, wo es meist um die Darstellung popkultureller Sozialisation mit konventionellen Mitteln geht. So gesehen stellt Thomas Meinecke eine eindrucksvolle, eine funkelnde Ausnahme dar.
Mit seinem neuen Roman mit dem schönen Titel „Hellblau“, schreibt Thomas Meinecke an seinem Projekt der postkolonialen Literatur weiter, wie er es bereits in seinem ersten Roman „The Church of John F. Kennedy“ von 1996 und seinem zweiten und letzten Roman „Tomboy“ von 1998 verfolgt hat. Immer geht es um die Pluralisierung von Identität: Bei „The Church of John F. Kennedy“ um die Veränderungen deutscher Traditionen auf amerikanischem Boden. „Tomboy“, wo es um die Konstruiertheit des Geschlechts ging, stellte die eleganteste Literarisierung der Gender Studies dar, die einem auf Anhieb einfällt. Wie diese Romane hat auch „Hellblau“ wieder keine einfache Geschichte, die man einem Freund bei einer Tasse Kaffee erzählen könnte, und seine Figuren sind eher noch blasser, noch unwichtiger als zuvor. Die Story selbst ist kurz: Es geht um vier junge Leute aus Deutschland. Heinrich und Cordula, die ein Paar sind, leben in Berlin und stehen in ständigem Kontakt mit Tillmann und Yolanda in Amerika, die kein Paar sind. Tillmann lebt in North Carolina und Yolanda in Chicago, wo sie für ihr gemeinsames Buch recherchieren und darüber mit dem jeweils anderen korrespondieren. Worum es in diesem gemeinsamen Buch geht, ist nicht nur das eigentliche Thema von „Hellblau“, sondern auch der Filter, durch den man alles über diese vier erfährt, um das sich alles, auch ihr Liebesleben, dreht. Wer spricht, ist nie so wichtig wie das, worüber gesprochen wird. Grob gesagt geht es in diesem Buch Tillmanns und Yolandas um hybride Kulturen und die Multikulturalismusdebatte innerhalb der Cultural Studies in Amerika, die Analyse struktureller Ähnlichkeiten von Antisemitismus und Rassismus, um die Produktivität von Heimatlosigkeit und Diaspora, die Auffassung des anderen als folkloristisch und exotisch zum Zweck der Stabilisierung der eigenen Identität, um essenzialistische Versuche, Identität zurückzuerlangen und sich gegen das Konzept der Assimilierung zu schützen, um Strategien der Maskerade, Travestie und Wiederaneignung: um „racial cross dressing“. Dabei hat dieses Buch im Buch ebenso wenig ein Zentrum wie „Hellblau“.
Immer wieder setzt es bei Einzelbeobachtung wie beispielsweise einem Musikstück oder einem Theoriefragment an und spinnt sich wie von selbst weiter. All das geschieht mit ungeheurer Leichtigkeit: Alles bleibt immer sehr sinnlich auf ganz konkrete Phänomene bezogen, meist Produkte der Kulturindustrie sowohl des Mainstreams als auch der Subkultur. Theorie wird zu einem Patchwork veranschaulicht, das an ein Rhizom erinnert, an eine Struktur ohne Anfang, Ende oder Hierarchie, die sich unterirdisch verzweigt und verknotet. Alle Brüche und Schnitte werde so stimmig arrangiert, dass es trotzdem groovt.
Zum Beispiel Techno: Cordula, Heinrich, Yolanda und Tillmann, sie alle sind popkulturell interessiert. Alle definieren sich als begeisterte Technofans. Besonders Bands um die Detroiter Plattenfirma Underground Resistance wie Drexciya haben es ihnen angetan. Drexciya, die wie Cordula und Tillmann den Ausführungen des Londoner Musikjournalisten Kodwo Eshuns folgen, machen mit ihrer abstrakten, wortlosen, blubbernden Unterwassermusik noch lange keine Musik, die auf nichts mehr referiert. Die Geschichten, die sie erzählen, unterscheiden sich angenehm vom schwarzem Essenzialismus, der Pflege vermeintlicher afrikanischer Traditionen – also ursprungsmythischem Denken, das der dominanten Fiktion weißer Identität nichts als eine andere Fiktion einheitlicher, reiner, authentischer Identität entgegenzuhalten weiß. Loving the alien: Drexciya wissen um die Vermischung von freiwillig in Amerika gelandeten Afrikanern mit den Eingeborenen Mittelamerikas vor Kolumbus und dichten an einer viel unwahrscheinlicheren Fabel. Sie erzählt von seltsamen Mischwesen, terrestrisch und extraterrestrisch zugleich, die auf dem Meeresboden leben: „Schwangere afrikanische Sklavinnen wurden auf ihrem Weg nach Amerika zu Tausenden über Bord geworfen, weil sie krank geworden waren. Ist es möglich, dass sie Babys im Meer entbunden haben, die keine Luft brauchen?“ Von Drexciya aus geht es dann in alle möglichen Richtungen weiter. Vom Hundertsten ins Tausendste, eine nicht abreißende, manische Assoziationskette: Die irreduzible Komplexität der Welt, die Unmöglichkeit eindeutiger Sinnzuschreibungen wird hier so polyphon zum Ausdruck gebracht, wie es radikaler kaum denkbar ist: Es geht weiter um die Vor- und Nachteile wortloser Musik, die Unmöglichkeit, auf Semantik zu verzichten, solange man noch Soundmaterial sortiert und die Wiederentdeckung von Semantik im Postsoul nach Techno.
Tillmanns Geliebte Vermilion ist Jüdin. Als sie bemerkt, dass Tillmann nicht beschnitten ist, gerät sie ganz aus dem Häuschen, steckt ihn in Frauenkleider und nennt ihn fortan Venus. Sie fahren gemeinsam nach New York, um sich Williamsburg in Brooklyn anzusehen, eine Hochburg der chassidischen Juden. Sie diskutieren über das Bild des jüdischen Manns als masturbierendes, menstruierendes Weib bei Freud und das chassidische Schönheitsideal des unbehaarten Mannes mit weißen, feingliedrigen Händen, über den Antisemitismus Henry Fords, Rudolf Steiners, aber auch der Black Power Bewegung. Oft liest sich „Hellblau“ wie ein Bastard aus Detektivgeschichte, Science-Fiction und Historienroman: Tillmann entdeckt Geschichten von White Negroes, wie sie bereits von Norman Mailer beschrieben wurden – dass in den Zwanziger- und Dreißigerjahren viele weiße, oft jüdische Jazzmusiker einerseits die schwarze Kultur lebten und mystifizierten, andererseits aber auch schwarze Musik in einer Weise transformierten wie bis heute die jüdische HipHop-Band Beastie Boys. Es wird beschrieben, warum sich Weiße immer wieder mit Schuhcreme schwarz anmalen, wie die Nationalsozialisten Experimente mit menschlichen Augen durchführten, um deren Farbe zu manipulieren, und wie unmöglich es heute ist, Mariah Careys Hautfarbe zu bestimmen. Beinahe überflüssig zu sagen, wie aus diesen Perspektiven die Abschiebung von Asylanten aus Deutschland anmutet, die rechtsradikalen Ausschreitungen, der Streit um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern.
Auch anderswo, beispielsweise um die Metapher des Ozeanischen, setzt sich die Spurensuche fort: Tillmann gräbt eine Technoplatte aus, deren Macher sich nach einem deutschen U-Boot benannt haben und damit Kraftwerk fortschreiben, die die Utopie vom Maschinenmenschen, an dem kein Rest Natur mehr, an dem alles abstrakt und erfunden ist, als Erste in Musik verwandelt haben. Das Aquatische erforscht Tillmann als Symbol für Kontrollverlust und Weiblichkeit, die Geschichte der Kriegsschiffe, nach deren Wracks man vor der Küste North Carolinas tauchen kann. Schließlich erklärt er seiner Freundin, dass die hellblaue Farbe des Himmels, des Meers und mancher Augen keine objektive physische Qualität ist, sondern eine synthetische Leistung unseres Auges, eine Konstruktion.
Man könnte meinen, diese nie endenden, nur locker verschlungenen Geschichten wären zwar smart verbunden, aber eigentlich doch so trocken wie Knäcke. Doch hat sich das verbindende Glied der Handlung bei Meinecke nicht aufgelöst, sondern zu einem ganz anderen verwandelt: Das, was an diesem Roman so Spaß macht, ist neben seiner Eleganz die Einladung zum Dialog, die Möglichkeiten, anzuknüpfen und selbst weiterzuspinnen. Was Spaß macht, ist die Emphase des Wirklichkeitsbezugs, die bei Meinecke durchschimmert, seine Freude an der Welt, sein Wille, sich in Vieldeutigkeit zu entgrenzen, anstatt sie zu reduzieren. Verlustgefühle über fehlende Zusammenhänge kommen bei ihm nie auf, stattdessen bejaht er lustvoll die Pluralität und die Entoriginalisierung der Welt.
Obwohl Meinecke mal in einem Interview gesagt hat, der Stoff fließe durch ihn hindurch, er als Autor sei nur ein Rädchen, eine Chimäre, liest man doch überall den Enthusiasmus heraus, mit dem er den von ihm beschriebenen Theorien und Wirklichkeiten gegenübertritt. Seine Subjektivität funktioniert weniger über die aktive Gestaltung des Stoffes als über dessen Aneignung. Damit formuliert er die Hoffnung auf die Umgestaltung des autonomen Subjekts als handelndes zu einem Subjekt, das sich durch Erkenntnis definiert. Dass gerade die Bedeutungsüberschüsse für immer mehr Wahlmöglichkeiten sorgen und Widerstand ermöglichen. Meinecke, der mit seiner Frau in einem oberbayrischen Dorf lebt, ist seit 1980 Teil seiner Band FSK, Freiwillige Selbstkontrolle, arbeitet als Radiomoderator beim legendären „Zündfunk“, hat Feldstudien zur authentischen amerikanischen Countrymusik unternommen und CDs zusammengestellt. Die Rolle des Doppelagententums zwischen Musik und Literatur schwingt immer in seinen Büchern mit. Der Doppelagent kann nicht alles leben, was er streift. Er ist in allem Laie, Dilettant. Was ihn glaubhaft macht, ist nicht das, was er hervorbringt, sondern wie er Bestehendes vermittelt: mit Schick und Begeisterung.
Thomas Meinecke: „Hellblau“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 340 Seiten, 39,80 DM
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