DIE VERFASSUNG, NICHT DAS GEDÄCHTNIS SCHÜTZT DIE SPD-ABWEICHLER
: Gewissen auf seltsamen Wegen

Die Abgeordneten des Bundestags sind nur ihrem Gewissen unterworfen. So steht es im Grundgesetz. Doch das Gewissen ist nicht objektivierbar, weshalb es auch nicht möglich ist, einen Katalog zulässiger Gewissensentscheidungen aufzustellen. Die Berufung aufs Gewissen reicht. So geschehen, als einige SPDler im Bundestag gegen den Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr votierten.

Nun gibt es in der SPD-Fraktion keinen Fraktionszwang, wohl aber „Fraktionssolidarität“, wie es im Anhang zur Fraktionsgeschäftsordnung niedergelegt ist. „Solidarität“ ist hier ein Schaufensterbegriff – gemeint ist Disziplin. Diese Disziplin mit Hilfe von Debatten durch Seelenkneten herzustellen, ist Aufgabe der Fraktionsleitung. Und legitimerweise der Partei. Wodurch Generalsekretär Müntefering ins Spiel kommt, der den Abweichlern mit Konsequenzen droht.

Zwischen dem Gewissensentscheid und der Fraktionssolidarität existiert also ein Widerspruch, der nicht zugunsten der Disziplin aufgelöst werden kann. Denn die Fraktionssolidarität hat keinen Verfassungsrang. Müntefering hat Unrecht, wenn er meint, bloße politische Differenzen in der Beurteilung des Mazedonien-Einsatzes taugten nicht für einen Gewissensentscheid. Sie eignen sich, weil alles sich eignet, wenn der dissidierende Abgeordnete daraus eine Gewissensfrage macht. Freilich bleibt die Frage, wie ernst wir als Wählerpublikum einen Gewissensentscheid nehmen, der so spät kommt wie das Nein der SPD-Dissidenten zum Mazedonien-Einsatz. Auch das Gewissen, wiewohl definitionsgemäß vielstimmig, hat seine Glocke, und die hat im April 1999 bei den Luftangriffen der Nato auf Restjugoslawien geläutet. Damals folgte aus den Reihen der SPD kein Widerhall.

Normalerweise wäre eine Gewissensargumentation einsehbar, die sagt: 1999 war zur Not noch tolerierbar, aber jetzt reicht’s. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. 1999 standen Menschenrecht und Völkerrecht gegeneinander. 2001 aber geht es nicht ums Bombardieren, sondern ums Waffeneinsammeln. Das Gewissen geht eben manchmal seltsame Wege. CHRISTIAN SEMLER