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„Moment noch, gleich sind auch Sie dran“

In einem Altenpflegeheim teilen sich zwei Bewohner 25 Quadratmeter, und wer mal muss, darf noch lange nicht aufs Klo. In der Seniorenresidenz lebt, wer bestimmt hat sein ganzes Leben lang. Wer im Durchschnitt 6.500 Mark im Monat hinblättert, darf bis ans Lebensende Ferien im Luxushotel machen

von YVONNE GLOBERT

Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben. (Alexis Carrel, Chirurg und Nobelpreisträger)

Arabella Kiesbauer schreit über den Äther. Das Publikum grölt zurück. Um was es geht, ist nicht ganz klar. Aber es hat mit Sex zu tun. Irgendwo am Rande Berlins sitzen zwei Männer in ausgeleierten Jogginganzügen wortlos nebeneinander und starren auf den Schirm. Einige Meter abseits hockt eine Frau in einem beschmierten T-Shirt zusammengekauert und allein. Niemanden stört das Gekreisch und auch nicht der Gestank, der in der Luft liegt.

Vage Eindrücke verschwinden im Nirgendwo. In dem Pflegeheim mitten im Zentrum leben 96 Menschen. Die meisten von ihnen leiden an Demenz. Arabella kann noch so schreien. Viele werden sie gleich wieder vergessen haben. Und niemanden stört es, dass der Zivi gerade die Plastiktüte mit vollen Windeln zum Müll bringt.

Wer alt wird, möchte dies in Würde tun, selbstbestimmt oder doch zumindest so, wie es einmal im eigenen Sinne gewesen wäre. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist Gesetz. Und sie ist vor allem eine Frage des Geldes. Das trennt die Individualisten unter den Ruheständlern von denen, deren Leben geregelt ist von institutionellen Vorschriften, den Genuss von der Beschränkung. Zwischen goldenem und grauem Herbst liegen Welten – und manchmal nur wenige Kilometer.

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Der Blick ist unbegrenzt und geht auf eine lange Wanderschaft. Vorbei an mediterranen Gewächsen in großen Blumenkübeln, dann nach oben auf eine Fensterfront, höher in den zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten Stock, wo Arkaden ins Gemäuer gemeißelt wurden. Dann kommt nur noch der Himmel. Ein Schwarm Vögel zieht gerade vorbei. Getrennt nur von einer einzigen großen Glasfront, die die Seniorenresidenz am Rande Berlins umsäumt.

Heute hören die Bewohner und ihre Gäste deutsche „Chanson“, Lieder, die so schlüpfrig sind wie die Chansonnette gerne sein möchte. Sie haucht und schnurrt und faucht und japst ins Mikrofon. Und dann . . . ist der Text weg. Eine Dame aus dem Publikum in einem gelben Kostüm greift sich ein Herz. „Raus mit den Männern aus dem Reichstag.“ Das Lied kennt sie doch. Das kann sie doch. Die Chansonnette ist gerettet. Und das Publikum – Brauereibesitzerinnen in weißen Blusen, ehemalige Regierungsbeamte im schicken Zweireiher und Ärztinnen mit goldenen Ketten um den Hals – lacht und klatscht, und mancher kriegt auch noch einen Fingerschnipper hin.

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Die alte Frau starrt die Wand an, und nur deshalb fällt es auf, dass die Alten hier nicht aus Konzentration schweigen. Früher hat sie einmal als Näherin gearbeitet. Jetzt führt das hohle Talkshow-Gelaber in die Leere zurück. Die zierliche Greisin starrt nicht lange an die Wand. Die Blase meldet sich. Aber gerade jetzt ist das Klo, das sie sich mit drei Bewohnern teilen muss, besetzt. „Einen Moment noch, gleich sind Sie dran.“ Wer dran ist, entscheidet die Schwester. Wenn jemand muss, darf er hier noch lange nicht.

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Maria Rose lacht nicht, klatscht nicht, und schnippen tut sie schon gar nicht. Hellwache blaue Augen verfolgen kühl, was die engagierte Sängerin in dem glitzernden Etwas auf der Bühne treibt. Ihr verstorbener Mann hat gut verdient. Arbeiten musste Maria Rose nie. Aber Zeit hatte sie und Spaß daran, Sängern mit slawischem Charme und den großen Diven am Ku’damm zuzuhören. „Für dieses Hofgedudel hier hätten wir früher nicht mal 20 Pfennige bezahlt.“ Ein verächtlicher Zug legt sich um den Mund, in dem sonst so freundlichen Gesicht. Als das letzte Lied erklingt, hat sie sich längst erhoben und hastet so schnell es Beine und Gehstock erlauben davon. Es ist 22 Uhr. Länger mag sie das Hofgedudel nicht ertragen.

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„O Entschuldigung“, sagt die Heimleiterin flüchtig, als sie die Klinke zur Nasszelle drückt und sich ein alter Mann erschrocken umsieht. Die Faust umballt einen großen Schlüsselbund. Die Lizenz zum uneingeschränkten Zugang. Helga Scholz ist das egal. Sie kennt es so. Wie viele Jahre sie hier wohnt, zusammen mit ehemaligen Handwerkern, Näherinnen und sogar ein paar Juristen weiß sie nicht. Ihr Sohn hat sie hergebracht. „Abgeschoben haste mich, sag ich immer zu ihm. Dann ärgert er sich“, erzählt sie und grinst verschmitzt.

Ihre Freundin vom Zimmer nebenan ist zu Gast. Wie an jedem Tag. Viel Platz haben die beiden nicht beim Nachrichtenschauen: Im Pflegeheim teilen sich zwei Bewohner 25 Quadratmeter, weniger als den meisten Studenten zur Verfügung steht. Frau Scholz würde bestimmt gern mit ihrer Freundin zusammen wohnen. Aber den Zimmergenossen kann sich niemand aussuchen.

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Die Residenz selbst ist Programm: Hier lebt, wer bestimmt hat sein ganzes Leben lang. Malermeister, die sich hoch gearbeitet haben, genauso wie Geschäftsführer, die die Geschicke ganzer Konzerne leiteten. Jetzt wollen sie wenigstens noch im eigenen Leben den Ton angeben oder zumindest ein bisschen das Personal schikanieren: Die Großunternehmerin von früher besteht darauf, dass ihr Sonnenschirm jeden Tag aufgespannt wird. Ob sie auch darunter sitzt, ist eine ganz andere Frage. Der ehemalige Masseur ist ein Seniorenheimtourist. Vier hat er schon durch. Stunk gibt es immer dann, wenn sich sein vergesslicher Nachbar in der Tür irrt. Der Exmasseur könnte abschließen. Er tut es nicht.

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Frau Scholz und ihre Freundin rücken auf der altmodischen Couchgarnitur zusammen. Es riecht nach abgestandener Luft. Zwei Pflegebetten, ein großer Kleiderschrank in einem fahlen Braunton und je zwei Nachttische stehen in jedem Zimmer. Alles hier wirkt ein wenig billig wie der abwaschbare Bodenbelag aus PVC und ist bunt zusammengewürfelt: Zu viele verschiedene Farben und Muster, die kein Ensemble bilden mögen.

Das Geld ist bei dem Umbau vor drei Jahren in den Empfangsbereich des Pflegeheims geflossen: Hier fügen sich Terrakottatöpfe, Jalousien in Altrosa und sogar die rotweiß-getigerte Hauskatze, die sich auf dem weichen Teppich rekelt, in Harmonie zum warmen Rostrot der Wände. Frau Scholz hat ein paar Kissen auf der Couch drapiert und ein gesticktes Bild an die Wand gehängt. „Italien, da, wo die Schwestern hier immer Urlaub machen“, schwärmt sie.

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Der Nachbar des nörgeligen Masseurs hat Alzheimer. Oft irrt er durch die Gänge der Pflegestation und findet sein Einzelapartment nicht mehr. Deshalb haben ihm die Schwestern eine Schwarzweiß-Fotografie an die Zimmertür geheftet: Es zeigt ihn selbst, einen stattlichen Mann in legerer Pose vor einer breiten Bücherfront. So wie er war – vor Jahrzehnten. „Ich möchte die Menschen hier betreuen, wie ich später selbst betreut werden möchte“, sagt der Direktor der Residenz. Um Werte gehe es ihm. Es klingt wie ein Werbespruch. Dahinter steckt eine klare Kalkulation: Hier kommt jeder rein, wenn der Zaster stimmt. Wer im Schnitt 6.000 oder 7.000 Mark im Monat hinblättert, darf bis ans Lebensende Ferien in einem Luxushotel machen. Hier kennen die Kellner den Lieblingswein. Im Badezimmer wandeln die Bewohner auf braunem Mamor und trocknen sich das Haupt mit vorgewärmten Handtüchern.

25 Pflege-Apartments und 82 Wohnungen mit zwei oder drei Zimmern gibt es in der Residenz. Die kleinste misst 66 Quadratmeter. Die größte 147 Meter im Quadrat. 11.000 Mark im Monat kostet sie. So viel mag im Moment niemand zahlen.

Im Mai 2000 wurde die Residenz eröffnet. Seitdem wohnen gerade mal 40 Menschen hier. Mehr als doppelt so viele könnten es sein. „Die Berliner sind halt knausriger“, argumentiert der Direktor.

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Die Rente reicht selten. Bei Tagessätzen zwischen 115 und 188 Mark buttert das Sozialamt bei. Je höher die Pflegestufe, desto mehr. 38 Pflegekräfte, sieben Zivis und zwei Praktikanten kümmern sich tagsüber um die 96 Bewohner.

Eine Altenpflegerin mit strubbeligen Haaren und weißem Kittel huscht nervös vorbei. Sie hat gerade alle sechzehn Bewohner ihrer Station frisch gewickelt. In zwei Stunden wird es wieder so weit sein. Sechsmal am Tag werden neue Pampers angelegt. Nachts müssen mindestens zwei Pfleger im Einsatz sein. So sieht es der Landespflegeplan vor. Und mehr gibt es auch nicht hier. Wer sich nachts einnässt, muss warten bis zum nächsten Vormittag.

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Langsam, Schritt für Schritt geht es vorwärts. Mit aller Kraft krallt sich die Frau am Arm der Altenpflegerin fest. Heute fällt das Gehen besonders schwer. 35 Grad liegen in der Luft. Bis zum erlösenden Gewitter dauert es noch Stunden. Ausnahmsweise darf die Altenpflegerin heute ihre grüne Strickjacke ausziehen. Sie hat beim Direktor um Erlaubnis gefragt.

Grün. Es findet sich überall: auf Werbebroschüren, auf dem Teppich im Eingangsbereich. Wärme soll es vermitteln und zugleich ein Signal geben: Hier ist jemand ansprechbar. 13 Pflegerinnen sind es für 24 Bedürftige – rund um die Uhr.

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„Wir versuchen den Bewohnern die Zeit zu geben, die sie brauchen“, sagt die Heimleiterin. Damit meint sie die Zeit für die Pflege. Von der Zeit für Gespräche, für eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht, für einen Einkauf oder die Begleitung zum Arzt spricht sie nicht. Diese Dinge übernimmt ein gemeinnütziger Dienst. Manchmal.

Frau Scholz freut sich über das fremde Gesicht. Und gibt ihm ein Rätsel auf. Ein offenes Bein kommt darin vor, Urlaub am Meer, ein Vater, der sehr ungerecht sein konnte. Bruchstücke aus einem ganzen Leben. Um sie zusammenzusetzen, brauchte man Zeit. Aber wer hat die schon?

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