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Exoten für schwere Fälle

Lastenräder sind praktisch, alltagstauglich und vielseitig. Aber auch in der Millionenstadt Berlin findet man sie trotzdem eher selten. Die hoch spezialisierte Fahrradgattung führt ein Schattendasein, doch sie wartet mit technischen Neuerungen auf

von JOCHEN SIEMER

Dem Berliner Verkehrsgeschehen ist ja vom Doppeldecker-Cabriolet über die Rikscha bis hin zum Fesselballon kaum etwas fremd. Aber Lastenfahrräder sind trotzdem noch ein Hingucker. Der Testfahrer erregt schon auf den ersten Metern einiges Aufsehen. Eine junge Frau macht bereitwillig Platz auf dem Bürgersteig, statt missbilligender Blicke kommt die Frage, ob sie ein Stück mitgenommen werden könne. Leider nicht, bin im Dienst. Vor einem Fahrradladen interessieren sich die dort versammelten Fachleute vor allem für das ungewöhnliche Konzept.

Das Testfahrzeug ist ein „Nihola“, erst im Juli von der kleinen Firma radradrad.de in Prenzlauer Berg auf den hiesigen Markt gebracht und eine echte Innovation: Es folgt zwar der meistverbreiteten Lösung „hinten ein, vorne zwei Räder“, hat im Unterschied zum Großteil der Konkurrenz aber keinen auf der Vorderachse montierten Kasten. Stattdessen nimmt eine Trommel die Last auf. Damit geht etwas Stauraum verloren, doch dafür lassen die Räder sich – wie beim Auto – über ein Lenkgestänge führen. Die Trommel ist zwischen den Vorderrädern, damit sehr tief und günstig für den Schwerpunkt der gesamten Fuhre, starr am Rahmen montiert. Es muss also nicht bei jeder Lenkbewegung die gesamte Zuladung bewegt werden. In puncto Wendigkeit sucht das Nihola somit seinesgleichen, wie die Expertenrunde sofort feststellt.

Ein kleiner Junge interessiert sich für derlei Finessen dagegen überhaupt nicht und konstatiert nur trocken: „Da kommen deine Kinder rein, oder?“ Der Knirps hat das Zeug zum Marktforscher, denn genau das ist die wichtigste Verwendung für ein Lastenrad, jedenfalls auf dem Berliner Markt. Wer in alten Bildbänden blättert, entdeckt ab den 20er-Jahren und bis hinein in die Nachkriegszeit noch jede Menge Gefährte, die man heutzutage als „human powered“ bezeichnen würde. Bäcker, Zeitungsvertriebe, Lieferanten aller Art hatten zum Teil recht pfiffige Konstruktionen im Dienst. Mittlerweile aber, sagt Gaya S. Schütze vom Fahradladen Mehringhof, ist der Gewerbebetrieb ein eher seltener Kunde. „Wir haben mal ein Lastenrad an ein Zahnlabor verkauft; keine Ahnung, was die damit transportieren.“

Im Mehringhof gibt es den Klassiker unter den pedalgetriebenen Lasteseln, das dänische Christiania Bike. Der Name täuscht ein wenig, denn aus der Kopenhagener Spontikolonie Christiania wurde die Produktion mittlerweile nach Bornholm verlagert. Auf dem deutschen Markt hatte die Marke wenig Fortune, weil ihr Vertriebspartner – ebenfalls in Berlin ansässig – mit einem stattlichen Schuldenberg in Konkurs ging. Danach konzentrierte man sich lieber auf den Direktvertrieb. „Wir mussten uns ziemlich gründlich prüfen lassen, bevor wir die Räder hier verkaufen konnten“, erinnert sich Gaya S. Schütze an den zaghaften Neueintritt der Dänen auf dem Berliner Markt. Rund ein Dutzend Christianias verkauft der Mehringhof-Laden im Jahr.

Es könnten weit mehr sein, da sind sich die Experten einig. Wer seine Kinder nicht für jeden kurzen Weg zum Supermarkt ins Auto verfrachten will, dem bringt die velophile Transporttechnik „ein ganzes Stück Lebensqualität“, sagt die Fahrradhändlerin. Und auch kommerzielle Nutzungsmöglichkeiten bieten sich in Hülle und Fülle: Es gibt Spezialversionen zum Straßenverkauf von Eis und gekühlten Getränken, die dänische Post hat Briefträger aufs Dreirad gesetzt, Gartenbaubetriebe bestellen sich die Ausführung mit kippbarer Wanne aus verzinktem Stahlblech, Putzkolonnen fahren ihr Handwerkszeug von einer Kundenadresse zur nächsten. Doch um potenzielle Kunden überhaupt aufmerksam zu machen, brauchte es teure Werbung, und dazu ist in der Fahrradbranche kaum jemand in der Lage. Selbst große Händler führen deshalb so gut wie nie Lastenräder im Sortiment, die ja außerdem auch reichlich Platz benötigen und Kapital binden: „Du musst immer so ein Ding rumstehen haben“, sagt Gaya S. Schütze, „und das ist nicht billig“. Unter 2.700 Mark ist kein Lastenrad zu haben.

Die Pedallaster führen deshalb „als hoch spezialisierte Fahrzeuggattung mit sehr schmalem Marktsegment eher ein Schattendasein im Fahrradhandel“, heißt es auch bei „Pedalpower“. Der Betrieb mit Filialen in Lichtenberg und Kreuzberg geht aber gern auf diese extravagante Zielgruppe ein, denn er verkauft die Spezialvelos nicht nur, sondern baut sie auch. „New Long John XXL“ heißt die Pedalpowerversion eines in der Grundversion auch anderswo erhältlichen skandinavischen Modells für ganz selbstbewusste Radler. Der Long John hat nämlich nur zwei Räder, zwischen denen eine Ladefläche bis zu 100 Kilogramm Nutzlast aufnehmen soll. Das ist genauso viel wie beim Christiania oder dem Nihola, aber der Herausforderung, eine derartige Fuhre stets in der Balance zu halten, mögen sich nicht allzu viele Kunden stellen. Eine Probefahrt ist aber immer möglich und Spezialanfertigung nach Wunsch auch.

Für den Normalverbraucher eher von Interesse ist das ebenfalls bei Pedalpower montierte „Berliner Lastenrad“. Es lässt sich für Laien kaum vom Christiania Bike unterscheiden. Die Grundausführung kostet mit knapp 3.000 Mark allerdings etwas mehr (Christiania: 2.700 Mark) und hat keine Gangschaltung, dafür aber eine Lichtanlage. Weil aber von der Schaltung über das Verdeck bis hin zur gurtgesicherten Kindersitzbank bei beiden Herstellern vieles variiert werden kann, kommt wohl kein Interessent um einen direkten Vergleich herum.

Die Erörterung der Qualitätsunterschiede gerät denn auch schnell zur Glaubensfrage: Berliner Lokalpatrioten schwören auf die sorgfältige Verarbeitung und führen zum Beispiel die Pulverschichtlackierung ins Feld; das Christiania ist gelb verchromt und klar lackiert und sieht damit in der Tat sehr nach Nutzfahrzeug aus. „Zu unhandlich“, sagen Christiania-Fans dagegen über die Konkurrenz. Sie schwören außerdem auf ein Produkt, das schon lange auf dem Markt ist und kontinuierlich verbessert wurde. Im Mehringhof wird mit Spannung das erste Exemplar des „Christiania Light 2000“ mit (pulverbeschichtetem) Aluminiumrahmen erwartet. Diese Version hat eine von 100 auf 80 Kilogramm reduzierte Zuladung, ist aber auch explizit auf den Kindertransport ausgerichtet. Wer damit also nicht auskommt, sollte sich dringend Gedanken über die richtige Ernährung seiner Familie machen.

Das Nihola wiederum hat schon jetzt erhebliche Gewichtsvorteile, es wiegt 28 Kilo und damit satte 7.000 Gramm weniger als die Standardmodelle der Konkurrenz. Die Lastentrommel, die es als „Modell Cigar“ auch in einer deutlich größeren, ovalen Ausführung gibt, ist aus Kunststoff, die Kisten von Berliner Lastenrad und Christiania sind dagegen aus wasserfestem Sperrholz. Auch ein hydraulischer Lenkungsdämpfer verdeutlicht, dass Nihola auf Technik setzt. Allerdings hat das auch seinen Preis: Das Rad mit der Trommel gibt es erst ab 3.500 Mark.

Solche Summen könnten natürlich auch ein Grund dafür sein, dass Lastenräder noch immer Aufsehen erregen. Andererseits legen viele Zeitgenossen vergleichbare Beträge für Räder hin, auf denen außer dem Fahrer nicht mal mehr ein Stullenpaket Platz findet.

Pedalpower, Pfarrstr. 116, 10317 Berlin, Tel./Fax (0 30) 5 55 80 98; Großbeerenstr. 53, 10965 Berlin, Telefon (0 30) 78 99 19 39, www.pedalpower.de;radradrad.de – Transporträder und mehr, Marienburger Str. 31, 10405 Berlin, Tel. 0 17 04 83 86 30; www.radradrad.de; Fahrradladen Mehringhof, Gneisenaustr. 2 a, 10961 Berlin, Tel. (0 30) 6 91 60 27,

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