: Die Schlossherren im Hirschberger Tal
Insgesamt 38 Schlösser, Burgen und Herrensitze gibt es im polnischen Jelenia Góra vor den Toren Berlins. Nachdem die alte Pracht lange Zeit unbeachtet und vernachlässigt zerfiel, wird nun – mit oder ohne EU-Gelder– restauriert. Mit viel Aufwand werkeln Privateigentümer an Fassaden und Interieur
von GABRIELE LESSER
„Als ich meinem Vater erzählte, dass ich sein altes Schloss in Schlesien gekauft hätte, hat er fast einen Herzanfall bekommen: ‚Bist du wahnsinnig geworden? Weißt du, was das kostet? Allein die Restaurierung!‘ “ Ulrich von Küster lacht lausbubenhaft und nimmt die dreijährige Anna auf den Arm: „Das war vor zehn Jahren. Ich war gerade mit dem Jurastudium und dem Referendariat fertig, als ich in der Zeitung las, dass im Hirschberger Tal im Riesengebirge Schlösser verkauft würden.“ Der damals knapp Dreißigährige packte kurz entschlossen die Reisetasche und fuhr zusammen mit Elisabeth, seiner heutigen Frau, nach Polen. Eigentlich nur, „um mal zu gucken“. Der Anblick des Barockschlosses verschlug ihnen allerdings den Atem: In der Ruine konnte man vom Erdgeschoss durch vier Stockwerke in den Himmel sehen. Nur das Witwenschlösschen nebenan, das bis zuletzt von einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft als Verwaltungsgebäude genutzt worden war, wirkte noch halbwegs bewohnbar.
Gegenüber von Schloss Lomnitz (heute Łomnica), auf der anderen Seite des Bober, sah das ehemalige Schloss Schildau (Wojanów) nicht viel anders aus, ebenso Schloss Boberstein (Bobrów), Schloss Fischbach (Karpniki), die Ritterburg in Boberröhrsdorf (Siedlęcin) oder die hoch in den Bergen liegende Burg Kynast (Chojnik). Dies waren einst die Burgen und Festungen der polnischen Piasten und die Sommerresidenzen der preußischen Könige und Adligen. Nirgends in Europa gibt es so viele Schlösser, Burgen und Herrensitze auf so engem Raum wie im Hirschberger Tal (Hirschberg = Jelenia Góra) vor der Toren Berlins – 38 sind es insgesamt.
Die sanft hügelige Kulturlandschaft des Riesengebirges mit der Schneekoppe, die wie magisch den Blick auf sich zieht, ist nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Schlösser des ehemaligen Feindes dienten den Polen ab 1945 als Kinderheime, Sanatorien oder als Arbeiterwohnheime für die Vertriebenen aus Ostpolen. Nach dem furchtbaren Krieg dachte niemand daran, die ehemaligen deutschen Adelsresidenzen als „europäisches Kulturerbe“ zu betrachten und ihnen besondere Pflege angedeihen zu lassen. So ist das „Tal der Schlösser und Gärten“ innerhalb der letzten fünfzig Jahre zu einer Ruinen- und Sumpflandschaft verkommen, deren deprimierender Anblick schließlich die polnischen Denkmal- und Naturschützer auf den Plan rief.
Noch in der Aufbruchsstimmung der Solidarność-Zeit fanden sich Privatleute, die für einen symbolischen Zloty eines der Schlösser kauften, sich voller Elan in die Restaurierung stürzten und nach ein paar Jahren wieder aufgaben: Nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 gab es in Polen kaum noch etwas zu kaufen, schon gar keine Baumaterialien. Doch die schlimmste Zeit für die schlesischen Schlösser setzte erst mit der Wende ein, als die LPGs aufgelöst und die Verwaltungsgebäude aufgegeben wurden. Genau in jener Zeit begann aber auch bei Politikern und in der Gesellschaft das Umdenken – hin zum „europäischen Kulturerbe“.
Schon heute ist Schloss Łomnica (sprich Womnitza) mit seinem schönen Garten und dem gepflegten Landschaftspark im klassischen Lenné-Stil das Vorzeigeobjekt im Hirschberger Tal. Unter polnischen, deutschen und tschechischen Touristen gilt das Schlosshotel mit der hervorragenden Küche (Gurkenkaltschale, Forelle und Mohnstrudel!) als Geheimtipp. Elisabeth und Ulrich von Küster haben längst Polnisch gelernt, und die kleine Anna verständigt sich ohnehin in beiden Sprachen. Der Vater Ulrichs will nicht zurückkehren, kommt aber von Zeit zu Zeit auf Besuch und freut sich über die Fortschritte in Schloss und Park.
Drei Kilometer weiter, neben Schloss Czarne (früher Schwarzbach), schließt Jacek Jakubiec die Tür eines grauen Wohncontainers zu und stöhnt: „Noch zehn Tage, dann können wir zurück ins Schloss.“ Ähnlich wie die von Küsters wohnte auch Jakubiec über Jahre hinweg in einem Wanderprovisorium aus Luftmatratzen, Campinggrill, Gaslampen und Waschschüsseln. Nach und nach wurden die Domizile etwas wohnlicher. Erst wurde das Schlossdach abgedichtet und wurden die Fenster wieder eingesetzt, dann kamen Kanalisation und Strom. Auch der Stadtplaner und engagierte Ökologe Jakubiec steht kurz vor dem Ziel: In spätestens einem Jahr soll Schloss Czarne (sprich: Tscharne) als Internationales Ökologisches Zentrum eröffnet werden. Die kleine Wohnung im Ostflügel für ihn, seine Frau und die beiden Kinder wird in den nächsten Tagen fertig.
Im Westflügel funktionieren schon seit Jahren ein kleines Büro und eine Bibliothek mit Schulungssaal. Gerade mal acht Leute passen an den Tisch, höchstens zehn, doch Jakubiec, der mit seinem Schlabberhemd und dem weißgrauen Rauschebart auf den ersten Blick wie ein echter Ökofreak wirkt, hat es nicht nur geschafft, in den letzten zehn Jahren immer wieder international renommierte Experten aus dem Denkmal- und Umweltschutz nach Jelenia Góra zu holen. Vielmehr hat Brüssel auf sein Betreiben hin Schloss Czarne ganz oben auf die Prioritätenliste in der Euroregion Neiße gesetzt. „Wir arbeiten sehr eng mit Görlitz zusammen“, erklärt Jakubiec in fließendem Deutsch. „Das Fortbildungszentrum für Handwerk und Denkmalpflege in Görlitz ist ein Vorbild für uns. So etwas möchten wir in Schloss Czarne auch einrichten.“
Zwar sind die polnischen Restauratoren in aller Welt geschätzt, doch das sind wenige hundert Spitzenleute, die sich ihr Wissen und ihre Fähigkeiten meist autodidaktisch beibringen. Eine Handwerksausbildung wie in Deutschland gibt es in Polen nicht. 1997 und 1998 hatte Jakubiec junge Restauratoren aus Polen, Deutschland und Tschechien auf die „Baustelle Schloss Czarne“ eingeladen und mit ihnen die Renaissance-Holzbalkendecken getreu nach altem Vorbild wieder eingezogen.
Jakubiec, der als aktives Solidarność-Mitglied 1981 seine Stelle als Stadtplaner an der Breslauer Universität verlor und einige Jahre im Untergrund leben musste, ist es gelungen, auch die Nachbarn des Schlosses für seine Sache zu begeistern. So brachten die Leute nach und nach die kunstvoll behauenen Steine des Schlossportals aus dem 16. Jahrhundert zurück. Sie hatten zwischenzeitlich als originelle Sitzmöbel in den Haus- und Schrebergärten gedient.
Während im Schloss selbst vor allem Seminarräume für die künftigen Natur- und Denkmalschützer entstehen – eine euroregionale Umweltbibliothek, ein Clubsaal und ein kleines Museum – sollen die dazugehörigen Wirtschaftsgebäude die finanzielle Grundlage für den Schlossbetrieb einspielen. Geplant ist ein Hotel mit sechzig Plätzen und einem Restaurant, außerdem ein ökologisch geführter Bauernhof oder eine Pferdezucht mit Reittouristik.
Eine verwunschen-dämmrige Allee führt bis an ein gusseisernes Tor, hinter dem sich effektvoll-prächtig ein wahres Märchenschloss erhebt: Schloss Bobrów (früher Boberstein). Erst bei näherem Hinsehen fällt auf, dass auch hier fast schon jede Rettung zu spät kommt. Günter Artmann, ein alter Schlesier, der trotz seines Namens besser Polnisch als Deutsch spricht, ist trotzdem zuversichtlich: „Was sich sichern lässt, haben wir gesichert. Das Schlimmste ist das Dach. Vor ein paar Jahren wurden Ziegel für ein Wohnhaus hier in der Gegend gebraucht. Das Schloss wurde ganz offiziell als ‚Steinbruch‘ freigegeben. Das war dann fast sein Ende.“ Inzwischen steht es wieder auf der Denkmalschutzliste, ein Dach hat es deshalb immer noch nicht.
Günter Artmann macht fast alles allein. Gelder von der EU, wie die neuen Schlossherren von Łomnica und Czarne, hat er noch nicht beantragt. Dennoch gibt es bereits wieder ein Schlossleben: „Im Sommer toben hier polnische und deutsche Kinder durch Garten und Park.“ Stolz deutet Günter Artmann auf die Wirtschaftsgebäude: „Deutsch-Polnische Jugendbegegnungsstätte“ steht über der Tür. „Und an Sommerabenden feiern wir groß. Alles wird schön beleuchtet, eine Kapelle spielt, und dann tanzen wir“, lächelt Artmann mit einem wehmütigen Blick auf das halb zerfallene Schloss. „Tak jak kiedys – ganz wie früher.“
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