: Konsumtempel in der Krise
Die fallenden Aktienkurse an der Wall Street ziehen die Stadt New York mit in die Tiefe, denn die konsumfreudigen Börsianer verdienen weniger oder werden entlassen
NEW YORK taz ■ Die Wall Street steckt nach einer Woche voller Kursstürze in einer tiefen Krise. Neben den Verlusten an den Aktienmärkten machen Börsengurus weitere Anzeichen einer ernsten Rezession in New York aus. In der Umgebung des wichtigsten Finanzzentrums der Welt verzeichnen Toprestaurants Umsatzeinbrüche von über 25 Prozent, exklusive Schuhgeschäfte stehen vor dem Aus, und Feinkostläden verramschen ihre Spezialitäten: Die Kaufkraft der Börsianer schwindet.
Allein in der vergangenen Woche mussten Unternehmen wie Motorola, Intel und Manugistics Gewinnwarnungen aussprechen. Selbst Microsoft erlebte Kursverluste, obwohl das US-Justizministerium ankündigte, das Softwareimperium nicht mehr zerschlagen zu wollen. Offizielle Quellen rechnen mit einem Zusammenschrumpfen der Gewinne an der Wall Street von 21 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr auf rund 10 Milliarden Dollar in diesem Jahr. In der Folge kürzen die Unternehmen der Finanzwelt die Prämien ihrer Spitzenangestellten drastisch. Es drohen Entlassungswellen. Nach Schätzungen der New York Times stehen über 30.000 Topverdiener vor dem Rausschmiss; rund 5.000 Personen wurden bereits entlassen. Von ihnen hängen laut der Dachorganisation der Aktiengesellschaften an der Wall Street, der Securities Industry Association (SIA), jeweils zwei Jobs in hoch qualifizierten Branchen wie der Medienindustie oder dem Rechts- und Beratungsgewerbe ab. Dazu sind indirekt tausende Arbeitsplätze in den Luxusläden bedroht, so dass bis Ende des Jahres rund 100.000 Jobs verloren gehen könnten. Das würde zu einem dramatischen Verlust an Kaufkraft in New York City führen.
Zwar stellt die Wall Street nur 5 Prozent der Arbeitsplätze in der Stadt, schätzt das Amt für Rechnungswesen des Staates New York, bezahlt aber 20 Prozent der Gehälter. Die Situation an der Wall Street wird „sehr brutal werden. Die Stadt wird die Auswirkungen der Krise unausweichlich zu spüren bekommen“, glaubt der ehemalige Investmentbanker Felix Rohatyn, der entscheidend an der Bewältigung der Wall-Street-Krise Anfang der 70er-Jahre beteiligt war. Allein die an der Wall Street ausgeschütteten Prämien werden nach Einschätzung der SIA um bis zu 40 Prozent zurückgehen – ein Minus von rund 4 Milliarden Dollar im Vergleich zum Vorjahr.
Die Stadt sei nicht ausreichend auf die Krise vorbereitet, sagt Marcia Van Wagner von der unabhängigen Haushaltskommission. „Die Überschüsse der vergangenen Jahre haben die Verantwortlichen eingeschläfert“, urteilt sie. Allein in diesem Jahr hat der republikanische Bürgermeister Rudolph Giuliani Steuerkürzungen von 494 Millionen Dollar bei einem Überschuss von 2,7 Milliarden Dollar durchgesetzt. Im November stehen in New York City Neuwahlen zum Bürgermeisteramt an. Alle Kandidaten versprechen Mehrausgaben, doch das unabhängige städtische Haushaltsamt weist für das kommende Finanzjahr ein Minus von 3,3 Milliarden Dollar aus, das bis 2005 auf 4,9 Milliarden Dollar wachsen wird. Für Robin Prunty von Standard & Poor’s ist das noch kein Grund zur Sorge. Anders als in den Finanzkrisen Anfang der Siebzigerjahre oder zu Beginn der Neunziger habe New York heute bessere Mechanismen, um mit Rezessionen fertig zu werden. „New York hat das weltweit beste langfristige Finanzplanungssystem“, sagt Prunty. Der oberste Rechnungsprüfer des Staats New York, Carl McCall, aber hat bereits angekündigt, die Stadtverwaltung müsse 25.000 Jobs streichen, um aus der Krise zu kommen. Das alles lässt Szenelokalbesitzer Drew Nieporent pessimistisch in die Zukunft blicken. „Wir haben in den letzten Jahren zwei neue Lokale pro Jahr eröffnet. Dieses Jahr werden wir nichts Neues anfangen.“
DAVID SCHRAVEN
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