: Solidarität und mahnende Worte aus dem Kreml
Die Katastrophe in den USA bietet Präsident Putin das Forum für einen erneuten verbalen Feldzug gegen den internationalen Terrorismus
MOSKAU taz ■ Eine dreiviertel Stunde nach Bekanntwerden des Anschlags auf das World Trade Center in New York versammelte der russische Präsident Wladimir Putin den Sicherheitsstab im Kreml. Armee und Streitkräfte des Inneren wurden sofort in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Wenig später trat ein bleicher Kremlchef vor die Kameras und sprach dem amerikanischen Volk sein Beileid aus. In Moskau und Wladiwostok zogen russische Bürger mit Blumen vor die diplomatischen Vertretungen der USA. Das Katastrophenministerium bot überdies an, Helfer aus Russlands Fernem Osten nach New York zu entsenden.
Solidarität und Mitgefühl gehörten spätestens seit der Nato-Intervention auf dem Balkan nicht mehr zum Kanon der belasteten russisch-amerikanischen Beziehungen. Sie sind aber nicht geheuchelt. Dennoch wies Putin bereits in der Kondolenzadresse auf die Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft hin, die Russlands Warnungen vor dem internationalen Terrorismus nicht mit dem gebotenen Ernst aufgegriffen habe.
Im gleichen Sinne titelte das Massenblatt Komsomolskaja Prawda: „Erst in der Kaschirskoje Chaussee, gestern in New York.“ Vor zwei Jahren explodierten in Moskau zwei Wohnblocks, die mehrere hundert Menschen unter sich begruben. Moskau nahm die Tragödie zum Anlass, in Tschetschenien einen zweiten Krieg zu entfachen. Innenpolitisch ließ sich so der als „antiterroristische Maßnahme“ verpackte, gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Krieg rechtfertigen.
Russlands Konflikte im Nordkaukasus hatten und haben nichts mit Ursachen und Motiven des internationalen Terrorismus gemein. Mit Sicherheit wird der Kreml noch weniger bereit sein, seine Militärbasen in der GUS zu räumen und Menschenrechte im Kaukasus zu wahren.
Dass der Kremlchef das Grauen von Manhatten nutzt, um die Verfehlungen der eigenen Politik machiavellistisch umzudeuten, ist nahe liegend. Gefährlich wäre es, wenn die Weltgemeinschaft dem Entsetzen eine differenzierte Wahrnehmung des Kaukasusproblems opferte. Gleichwohl hat Manhatten auch gezeigt, dass die halbwegs zivilisierte Welt in einem Boot sitzt und koordiniertes Vorgehen verlangt.
Auf der Website des Kreml verglich Putins Polittechnologe, Gleb Pawlowski, die USA mit dem Zustand der Sowjetunion vor ihrem Zusammenbruch. Der Glaube an die sowjetische Stabilität sei vorgetäuscht gewesen. Ähnliche Erfahrungen machten nun die USA, deren Dominanz als einzige Supermacht infrage gestellt worden sei. Stabilität könne nur noch weltweit und solidarisch gesichert werden.
Der Kreml ist seit fünf Jahren auf der Suche nach Verbündeten, die bereit und in der Lage wären, dem amerikanischen Hegemon das Gerüst einer polyzentrischen Weltordnung entgegenzustellen. Die jüngste Entwicklung lässt auch den Polyzentrismus als überholt erscheinen. Darauf verwiesen russische Kommentatoren: Nun gelte es Flagge zu zeigen. Will Russland Teil der zivilisierten Welt sein, bedeutet das: kein Geplänkel mit Risikostaaten wie Iran, Irak oder Libyen.
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