: Die Kleinanleger des Mitgefühls
Alle warten auf den Gegenschlag der USA und sind sich einig: Irgendjemand muss die Rechnung bezahlen
Vor knapp zwei Jahren sah und hörte ich in einem Hamburger Büro mit an, wie aus ganz gewöhnlichen Arbeitnehmern hysterische Kleinanleger wurden. Bis heute staune ich darüber, dass sich Menschen, die ich für einigermaßen vernunftbegabt hielt, von halbgebildeten Kollegen beraten ließen und kurz entschlossen ihr Urlaubsgeld für Aktien drangaben. Inzwischen haben diese und diverse andere Börsenneulinge reichlich Geld verloren und tun es noch; trotzdem hat der Börsenbericht, genau wie die Wettervorhersage, im Fernsehen oder Radio einen festen Programmplatz – obwohl nur wenige etwas mit ihm anfangen können. Am vergangenen Dienstag, noch bevor die Türme des World Trade Centers einstürzten, gingen die Börsennachrichten gar alle zehn Minuten über die Sender: Der Dax fällt, hieß es, der Nemax sinkt; Telekom, Lufthansa und Preussag verlieren etc. etc. Das Börsenband des Senders n-tv lief wie gewohnt, während Bankangestellte aus den Fenstern der New Yorker Hochhäuser sprangen.
Selbstverständlich hätte man die Berichterstattung aus der Finanzwelt deshalb nicht einstellen müssen. Es hätten auch nicht, wie vor kurzem von der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen vorgeschlagen, „Gedichte, Bibelverse oder Aphorismen“ statt Zählern gesendet werden müssen, um „die Herzensbildung“ zu fördern. Vielmehr wäre Gelegenheit gewesen, wenigstens an dieser Stelle über das Irrationale aufzuklären, wenn man sich schon den Rest der Ereignisse nicht erklären konnte und durch Befragung auch der ehemaligsten ehemaligen FBI-Mitarbeiter keinen Schritt weiterkam in der Frage, wer die Attentate verantwortete.
Bis heute wird auf jede Ratio verzichtet. Derzeit wartet alles auf den so genannten Gegenschlag: Ohne zu wissen, welche militärischen Aktionen die Regierung der USA derzeit vorbereitet und gegen wen sie sich richten werden, haben hierzulande nahezu alle Parteien, Kommentatoren und sonstige Stellungnehmer den bevorstehenden Rachefeldzug akzeptiert. Skepsis hegt man allein angesichts einer Nato-Beteiligung, ansonsten aber sind die deutschen Vertreter der „zivilisierten Welt“ sich einig, dass nun irgendjemand eine Rechnung bezahlen soll. Offenbar ist das alles, was ein „kühler Kopf“ (Joseph Fischer) derzeit zu leisten im Stande ist: bei niedrigen Temperaturen den Verstand abschalten. Dabei ist die Sachlage unverändert: Inzwischen teilweise namentlich bekannte Terroristen töteten am 11. September mutmaßlich mehrere tausend Menschen durch Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon. Ob sie einer Organisation angehören, ist bislang unklar.
Es gehört zum guten Benehmen, einem Trauernden sein Mitgefühl auszusprechen. Von daher ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Bundeskanzler im Namen des deutschen Volkes sein Beileid an den amerikanischen Präsidenten übermittelt. An weiteren Trauerritualen mag teilnehmen, wer will – ob er nun einen Gottesdienst besucht, eine Grabkerze vor der US-amerikanischen Botschaft aufstellt oder vor lauter Betroffenheit einen Waffenstillstand im Parteienstreit ausruft (Guido Westerwelle). Wer aber in diesen Tagen behauptet, dass „die gesamte Welt getroffen“ wurde (Peter Struck), „fassungslos“ ist (Friedrich Merz) und von „den unschuldigen Opfern“ (Rezzo Schlauch) spricht, muss genauso öffentlich trauern und mitfühlen, wenn die ersten unschuldigen Opfer von Rumsfelds Truppen getötet werden. Wo und wann das sein wird, davon haben „die Menschen, die Toleranz üben und die Probleme friedlich lösen wollen“, (Wolfgang Gerhardt) keinen blassen Schimmer. Aber so viel ist gewiss: Der Dollar wird wieder steigen.
CAROLA RÖNNEBURG
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