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Kaufappelle an die Patrioten

Heute will die Wall Street den Handel wieder aufnehmen. US-Notenbank und Börsenaufsicht haben versucht, die Risiken eines Crashs zu minimieren

von BEATE WILLMS

Die ersten zwei Minuten werden dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein. Und die Glocke, die um Punkt 9.30 Uhr Ortszeit das Börsengeschehen eröffnen soll, wird von Mitgliedern der New York Police und der Feuerwehr geläutet. Ansonsten aber hofft man in der Wall Street, dass der heutige erste Handelstag seit dem Anschlag auf das World Trade Center möglichst normal abläuft. Und nicht nur dort: Investoren in aller Welt blicken heute auf die New Yorker Leitbörse (NYSE). Gibt es ähnliche Abstürze wie an den europäischen und asiatischen Börsen?

Bis zuletzt hatte NYSE-Chef Richard Grasso allerdings noch andere Probleme: Die Technik musste wieder zum Laufen gebracht werden. „Es gibt keine Vorbehalte mehr, den Handel so zu beginnen, wie wir es gewohnt sind“, konnte Grasso erst gestern nach letzten Tests sagen. Nach Berichten von CNN waren Infrastruktur und Technik im NSYE-Gebäude selbst zwar intakt geblieben, dafür aber die 20 Prozent der Telefonleitungen, die über eine Schaltzentrale neben dem WTC laufen, ausgefallen.

Die Investmentbanken veröffentlichten am Wochenende eine Schätzung, nach der ihnen in den vier Tagen ohne Handel rund eine Milliarde US-Dollar an Einnahmen aus dem Wertpapierhandel entgangen sind. Viele Analysten gehen davon aus, dass es damit nicht getan ist. Sie erwarten zumindest für die ersten Handelsstunden heftige Kursausschläge und befürchten, dass dem Markt auf Dauer Käufer fehlen. Andere rechnen jedoch damit, dass US-Investoren aus patriotischen Gründen vermehrt US-Aktien kaufen, so die Börsen oben halten. Internet-Finanzforen sind voll mit Appellen, nicht in Panik zu verkaufen – mit dem Hinweis „help the dead ones“.

Auch die Zentralbanken und die US-Börsenaufsicht SEC tun, was sie können, um die Angst der Marktteilnehmer vor Liquiditätsengpässen und Kursausschlägen zu mildern. So hat die US-Notenbank Fed mit der Europäischen Zentralbank und der Bank of England Devisengeschäfte vereinbart, nach denen sie US-Dollar zur Verfügung stellt. Auch eine Leitzinssenkung ist in Aussicht gestellt. Manche Experten erwarten sie zur heutigen Eröffnung, andere glauben an einen konzertierten Schritt im Verein mit anderen Notenbanken.

Die SEC hat unter anderem die Regeln zum Rückkauf von Aktien durch die Unternehmen gelockert. So können diese leichter schneller ihre eigenen Aktien kaufen und den Kurs oben halten. Einem Bericht der Washington Post zufolge sollen große Wertpapierhandelshäuser ebenfalls eine Übereinkunft getroffen haben, die Aktienkurse zu stützen, falls ein Crash drohen sollte.

Die Abkommen der Zentralbanken gelten über 30 Tage. Das macht deutlich, dass der erste Handelstag nach dem Anschlag nicht der entscheidende sein wird. Erst die folgenden Wochen zeigen, wie sich Fundamentaldaten entwickeln. Erste Anzeichen sind eher negativ: Der Ölpreis lag nach den Meldungen über die Mobilmachung in den USA wieder bei 29,60 Dollar. Nach der Deutschen Bank und der Rating-Agentur S&P’s prognostiziert auch JP Morgan Securities eine Rezession in den USA. So wundert es nicht, dass zuletzt vor allem die „sicheren Häfen“ Staatsanleihen nachgefragt wurden.

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