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„Berlin wurde zur Falle“

Der US-Korrespondent Guy Raz erlebte vor einer Woche den Angriff auf Amerika in der deutschen Hauptstadt: „Zu keiner Zeit meines Lebens habe ich mich so hilflos gefühlt“

In den letzten sechs Monaten habe ich Tote auf dem Balkan gesehen, zerstörte Dörfer in Nord-Mazedonien, und überall totale Verzweiflung. Jede Nacht kam ich zurück in mein Hotelzimmer und schrieb emotionslos meine Story. Danach ging ich zu Bett und wachte erst am nächsten Morgen auf.

Ich kann nicht sagen, dass das einfach war, aber es war möglich. Das gehört zur Aufgabe eines Reporters. Es ist die merkwürdige Art von Stolz, den jeder Feldreporter empfindet – eine Art Abgeschnittensein von der Geschichte, gleich einem Chirurgen, der zuschaut, wie wieder ein Patient stirbt.

Trotzdem berühren mich die monströsen Attacken auf mein Land und meine Landsleute zutiefst. Zu keiner Zeit meines Lebens habe ich mich so hilflos gefühlt und gleichzeitig so verzweifelt. Weniger als 20 Minuten nachem der erste der beiden World-Trade-Center-Türme getroffen wurde, erhielt ich einen dringenden Anruf aus Washington: „Flieg sofort nach Jerusalem!“, hörte ich meinen Redakteur am Telefon schreien. Innerhalb von zwei Stunden saß ich im Taxi nach Berlin-Tegel. Alles war arrangiert, in acht Stunden sollte ich in Jerusalem landen. Aber dann wurde der Flug gestrichen. Und so wurde Berlin plötzlich zur Falle, in der ich gefangen war – eine Stadt, von der aus ich nur wenig beitragen konnte zu den unglaublichen Ereignissen in Washington und New York.

Dann passierte etwas Bemerkenswertes: Ich entschloss mich, zur amerikanischen Botschaft zu gehen. Auf viele Deutsche wirkt es antiquiert, wenn Amerikaner ihren Patriotismus ausdrücken. Aber ich wollte sehen, wie meine Flagge auf Halbmast hing, und ich wollte ein Teil des Unfassbaren sein, das meine Freunde und meine Familie weit entfernt durchmachen mussten.

Dort, Unter den Linden, erlebte ich eine Katharsis. Da standen ganz normale Leute, Alte, Junge, gepiercte Jugendliche, Geschäftsmänner – sie standen einfach da, an den Barrikaden, die vor der amerikanischen Botschaft errichtet worden waren.

Kerzen flackerten auf dem Bürgersteig. Dazwischen lagen Blumen und kleine Briefchen. Dieser Totenschrein leuchtete bis auf die Straße. In einem Land, in dem alles geplant werden muss, in dem sogar Anarchisten ihre Demonstrationen anmelden, empfand ich die spontane Äußerung von Mitleid und Trauer als überwältigend. Tausende Berliner pilgerten in Richtung Botschaft wie klagende Besucher einer Beerdigung. Viele trugen Blumensträuße. Dann setzte der Regen ein.

Ich hatte keine Fragen mehr. Ich kehrte in mein Büro zurück, um meine Geschichte zu schreiben. Es war spät geworden, und der Redaktionsschluss rückte nahe. Aber nachdem ich das letzte Wort getippt hatte, setzte ich mich auf einen Stuhl und blieb wach. Die ganze Nacht. Das erste Mal hatte mich eine Story vom Schlaf abgehalten. GUY RAZ

Guy Raz ist Berlin-Korrespondent des öffentlich-rechtlichen National Public Radio (npr) der USA, sein Berichterstattungsgebiet umfasst ganz Zentral- und Osteuropa. Seit dem Wochenende ist Raz aus Israel auf Sendung.

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