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Der Terror der Gesellschaft

Nach den Attentaten vom 11. September lässt sich die darin sichtbar gewordene Gewalt nicht auf einen Angriff auf Staat oder Nation reduzieren. Vielmehr ist ein terroristisches Potenzial entstanden, das weltweit innerhalb des Systems operiert – als Abfall von und als Gegenmodell zur Gesellschaft

von PETER FUCHS

Die Bilder des Grauens, die seit dem 11. September rund um die Welt vorgeführt werden, das Entsetzen, das sich einstellt, wenn die Anonymität des Sterbens aufgebrochen wird in Nachrichten über Einzelschicksale, das starre Staunen über die Wucht des Angriffs gegen Schlüsselsymbole der Weltmacht USA – all das stellt Theorien still. Es gibt eine Art Scham der Abstraktion gegenüber der Vehemenz von tödlichen (sich selbst nicht schonenden) Leidenschaften, gegenüber apokalyptischen (deswegen kaum glaubhaften) Zerstörungen von Leib und Leben, die Scham auch, noch immer mit den Hunden spazieren zu gehen, einzukaufen, Tagungsvorträge zu planen, Alltäglichkeit zu zelebrieren, Scham, die sich erst abmildert, wenn der Gedanke auf den Plan tritt, dass auch sonst auf dieser Welt hekatombenweise und schändlich, weil unnötig, gestorben wird.

Sprachlos, das ist jedenfalls die erste Reaktion, müsste Theorie sein, wenn nicht schon von allem Anfang an geredet worden wäre. Die Massenmedien tun es, und sie bieten den Politikern, den Experten aller Couleur (bis an die Grenze der Lächerlichkeit) Raum und Zeit genug, die Katastrophe zu kategorisieren. Dieses Reden greift, wie sollte es anders sein, auf Schemata zurück, die die Kultur für solche Lagen bereithält: das Schema des Apokalyptischen (ich habe es eben selbst bemüht), das Schema des Krieges, das Schema des im Dunkeln hausenden Finsterlings, das Schema des rückhaltlosen Bösen, das es mit der Wurzel auszurotten gilt, das Schema des Kampfes der zivilisierten (aufgeklärten) Welt gegen die Residuen eines in der Form von dumpfem Fundamentalismus in die Moderne hinein überwinternden Mittelalters. Aktiviert werden Symbole der Anteilnahme, der Solidarität, des Hasses, der Wut, patriotische Symbole nicht minder wie die Fahne in den Trümmern des WTC oder das „God bless America!“, das die Abgeordneten auf den Stufen des Capitols intonierten. Das alte Modell des kosmischen Dramas wird reaktiviert, in dem die gute Macht gegen die böse Macht steht, die nicht gewinnen kann, aber im zu erwartenden Untergang unvorstellbaren Schaden anrichtet.

Das Superschema all dieser Schemata scheint das der „historischen Stunde“, der Beispiellosigkeit zu sein, des „Von hier und jetzt an . . . beginnt eine neue Zeit“. Aber seltsamerweise ist dieses Superschema nicht gedeckt durch Analyse. Es fungiert rhetorisch, aber ihm zugrunde liegen Vorstellungen, die ein Bild der Weltgesellschaft inszenieren, deren primäre Differenzierungsform Staaten seien, ein Bild, das es möglich macht zu glauben, dass es um Amerika gehe, um die USA, um die freien Völker der westlichen Welt, die angegriffen werden von (staatenlosen) Barbaren, denen alles Menschliche fremd ist.

Staat als Durchlaufkanal

Sucht man stattdessen einen nicht unbedingt wärmenden Zugang, findet sich in der theoretischen Soziologie die Idee, dass die Weltgesellschaft nicht primär differenziert sei nach Staaten oder Nationen, die eher als segmentäre Einheiten begriffen werden, vor allem nicht als Systeme, die eigene Operationen (japanische? amerikanische? neufundländische?) miteinander verketten könnten. Die zentrale Ordnungsform der modernen Gesellschaft, auf der, wenn man so will, jene Segmente wie sich selbst emphatisierende Inseln treiben, ist gekennzeichnet durch die Dominanz weltweit operierender Funktionssysteme, die die Staaten, die Nationen, die Organisationen durchlaufen und an keiner der Grenzen solcher Einheiten stoppen.

Solche Funktionssysteme (wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht, Erziehung, Kunst, Religion) sind komplett führungslos. Sie haben keine soziale Adresse, man kann sich nicht brieflich an sie wenden, so wenig, wie man an die Gesellschaft schreiben kann. Man kann sie böse oder gut nennen, aber es gibt keinen logischen Ort, an dem diese Systeme von solchen Einschätzungen erreicht werden. Sie sind zentrumslos und, wie Niklas Luhmann gesagt hätte, indifferent gegenüber Moral. Sie ordnen ihre Domänen mit hoch abstrakten (nahezu inhaltsleeren) Codes wie Zahlung/Nichtzahlung, wahr/unwahr, Innehaben-von-Ämtern/Nicht-Innehaben, Recht/Unrecht etc. Und sie sind, wie man seit einiger Zeit sagt, in der Form der Autopoiesis organisiert, was nichts weiter bedeutet als: Sie ändern ihre eigenen Strukturen nur intern, sind irritierbar, aber nicht intervenierbar. Autopoiesis heißt auch, dass diese Systeme zu immer neuen Ereignissen derselben Art kommen müssen, wenn sie nicht kollabieren sollen: Zahlungen generieren immer weitere Zahlungen, Wahrheiten immer weitere irrtumsfähige Wahrheiten, rechtliche Entscheidungen immer weitere rechtliche Entscheidungen. Wir haben es mit sich selbst propellierenden, mit wuchernden Systemen zu tun.

Die Gesellschaft (dieser Term) ist der Ausdruck für diese Mehrheit autonom operierender Funktionssysteme. Eine Konsequenz ist, dass man auch im Blick auf sie nicht mehr von einer Einheitsstelle, einem einzigen Ort der Repräsentation sprechen kann. Niemand spricht für die Gesellschaft, niemand kann sagen, was sie will oder soll. Sie ist wie die Funktionssysteme indifferent gegenüber solchen Zumutungen. Sie vollzieht sich, wie der Fachbegriff lautet, polykontextural – weisungsfrei, als Vielheit von spezifischen Operationen, die nicht überlappen, die zu keiner markierbaren Synthese führen. Sie ist gerade nicht Amerika + Deutschland + England + nichtstaatliche Akteure + Terror-Inc. . . . In diesen Vereinfachungen werden Zurechnungspunkte der Kommunikation ermittelt, werden Beschreibungen von Ursachen, Tätern und Taten angefertigt, die zweifelsfrei sozial notwendig sind. Niemand kann sich an der Abstraktion der Funktionssysteme orientieren, ohne jemanden zu benennen, zu fingieren, der der Auslöser von Taten ist. Die moderne Gesellschaft, würde das heißen, projiziert sich eine Szene, in der es plötzlich evident ist zu sagen: „Angriff auf Amerika“, als gäbe es ein Ding, das dies ist: Amerika. Auf diese Weise werden Urteile dirigierbar, Schuldzuweisungen möglich, Empörungen gegen Menschen dirigierbar – und wird Gegengewalt (mehr desselben) plausibel zielfähig.

Achtet man aber auf die zugrunde liegende Struktur (die Pluralität der Funktionssysteme), wird eine sehr komplizierte Frage möglich: Gibt es einen Rejektions- oder gar Abjektionsbereich (einen Bereich der Zurückweisung dieser Form selbst, einen Bezirk des Abfalls), der durch die moderne Gesellschaft selbst produziert wird? Gibt es, um ein altes Modell zu bemühen, eine Kehrseite ihrer Operationen, etwa so, wie das Närrische, die Narretei, der Karneval, die verkehrte Welt durch die alteuropäische Gesellschaftsordnung ausgeworfen wurde, der Wahnsinn dann im Übergang zur Neuzeit als das, was kaserniert und kategorisiert werden muss, oder wie die unvorstellbare vagabunditas der Schichtordnung des Mittelalters?

Man darf annehmen, dass sich dies so verhält. Die Figur, die diese Annahme argumentativ stützen würde, ist sehr kompliziert, läuft aber im Prinzip darauf hinaus, dass die Funktionssysteme der Gesellschaft allesamt (auf je ihre Weise) Inklusion und Exklusion zugleich produzieren: Die Reproduktion von Zahlungen durch weitere Zahlungen führt die Gegenwelt der Nichtzahlung bzw. Zahlungsunfähigkeit mit; die Erzeugung von kritikfähigen (wahren) Sätzen bedarf ihres Schattens, der Irrtum heißt, Irrationalität, Alogizität, Scharlatanerie; das Rechtssystem schafft, indem es rechtliche Entscheidungen verkettet, immer neue Bezirke des rechtlich Ungeordneten; die Politik regeneriert mit jeder politischen Entscheidung das Apolitische (das Machtlose). Was wäre die Kunst ohne die Banausen, was die Religion ohne diejenigen, die weder durch Glauben noch durch Nichtglauben betreffbar sind?

Wie reparieren?

Solange es sich um gleichsam punktuelle Exklusionen handelt – nur um Armut, nur um Machtlosigkeit, nur um rechtsfreie Zonen, nur um Bereiche der Entlastung von Wissenschaft oder Technik –, mag man auf die zukünftige Reparatur von Missständen hoffen. Tatsächlich ermöglicht die Form der funktional differenzierten Gesellschaft aber Spill-over-Effekte in dem Sinne, dass Exklusionen, die durch ein Funktionssystem anfallen, überschwappen auf die Inklusionsmöglichkeiten durch andere Systeme: kein Geld, kein Recht, keine Wissenschaft, keine Macht, keine Kunst, keine organisierte Erziehung, allenfalls noch Religion in einer Form, die keine Alternativen zulässt, also fundamentalistisch operiert. Und: keine Sozialarbeit, die in den Kernzonen funktionaler Differenzierung Exklusionschäden bearbeitet oder präventiv zu verhindern trachtet.

Wenn man mit der Theorie sagt, dass jene Kernzonen lose integriert sind, insofern sie den Leuten hohe Freiheitsgrade einräumen, die Spill-over-Bereiche aber schärfstens integriert sind, wenn Integration genau Reduktion von Freiheitsgraden bedeutet, dann liegt Gewalt nahe. Wer ein Kind festhält, wird erleben können, wie es schlägt, zappelt, tritt. Diese Gewalt kann unkontrolliert auftreten, als nicht zu stoppender Flächenbrand, als mörderische Referenz auf Körper, die nur noch Körper sind, weil der Hass nicht mitsehen will, dass es beseelte Körper sind.

Oder, und das scheint mir bei den Ereignissen der Fall zu sein, die unter dem Titel Megaterrorismus behandelt werden, diese blindwütige Gewaltbereitschaft (bis hin zur Gewalt gegen den eigenen Körper) wird organisiert durch Leute, die die Form der modernen Gesellschaft parasitär und virtuos nutzen. Wie immer, so gilt auch hier, dass man nicht wissen (nicht einmal: verstehen) kann, was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht. Entscheidend ist, dass diese Ausnutzbarkeitslage, weil sie mit der modernen Gesellschaft entsteht, offenbar ihre Ausnutzer findet und finden wird: Virtuosen insofern, als sie die Codes und Programme der Funktionssysteme so gut beherrschen wie die Kommunikation in generalisierten Exklusionsverhältnissen. Es sind Spagatisten oder (in einer älteren soziologischen Formulierung) Rollenhybride. Das macht sie so schwer zu fassen, und genau das erzwingt fatale Strategien, die im Vergeltungsoverkill vielleicht die Leute beseitigen, auf die die Verantwortung zurechenbar ist, aber nicht die Lagen (die sich im Overkill verschärfen), an denen sie prosperieren konnten. Wir haben es nicht mit einem Problem der westlichen Welt zu tun: Amerika oder Europa, das sind wirksam fungierende Simplifikationen. Die Dinge liegen um vieles ärger und komplexer, in der Form der Gesellschaft selbst.

Die Narren hatten einst den Narrenstab (die Marotte), auf dessen oberen Ende ein kleines Abbild ihrer selbst angebracht war, eselsohrig, schellenbehangen. Sie sahen sich selbst im Anderen der Ordnung, die sie hervortrieb. Sie führten eine Zwiesprache mit der Marotte, die nicht antworten konnte, mit einem Spiegel, der nichts spiegelte – außer das Zerrbild eines Zerrbildes. Ebendies könnte der Fall sein mit der höllischen Kehrseite der Gesellschaft.

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