: Die Türkei zwischen Hoffen und Bangen
Obwohl in der Türkei die Angst vor weltweiten Übergriffen auf Muslime umgeht, will Ankara im Fall von US-Vergeltungsschlägen zur Nato stehen. Derweil wächst die Hoffnung auf eine schnellere Annäherung an die EU
ISTANBUL taz ■ Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit hat gegenüber Journalisten bestritten, dass die USA Ankara bereits um die Nutzungsrechte für zwei weitere Militärbasen im Südosten des Landes gebeten haben. „Ich weiß nichts von solchen Anfragen“, sagte Ecevit, „ich kenne diese Behauptungen nur aus der Presse.“ Obwohl die meisten Türken überzeugt sind, dass Ecevit weit reichende militärische Entscheidungen sowieso erst aus der Zeitung erfahren würde, dürften Details wie die Nutzung türkischer Basen im Rahmen des kommenden „Kreuzzugs gegen das Böse“ zu diesem Zeitpunkt noch unklar sein.
Es ist möglich, dass US-Militärs schon vorgefühlt haben, ob die Luftwaffenstützpunkte in Diyarbakir und Malatya, die schon während des Golfkrieges genutzt wurden, potenziell wieder zur Verfügung stehen. Bislang ist nur die US-Präsenz am Luftwaffenstützpunkt in Incirlik aufgestockt worden, von wo die Flugverbotszone im Nordirak überwacht wird. Laut Nachrichtensender NTV soll unter anderem ein fliegendes Lazarett nach Incirlik verlegt worden sein.
Geht man davon aus, dass militärische Attacken der USA sich zunächst auf Afghanistan beschränken, sind die Basen in der Türkei, dem geografisch dazu nächstliegenden Nato-Land, nicht einsetzbar, da der iranische Luftraum dafür nicht geöffnet würde. Experten wie Professor Mensur Akgün weisen jedoch darauf hin, dass der türkische Geheimdienst involviert sein könnte, da der türkische MIT über seine Kontakte zum pakistanischen ISI auch in Afghanistan bestens im Bilde sei. Nach Presseberichten hat der MIT angeblich davor gewarnt, die Organisation Ussama Bin Ladens sei auch im Besitz chemischer Waffen. Darüber hinaus rechnet in der Türkei zurzeit niemand mit dem Einsatz eigener Truppen, auch wenn die türkische Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt wurde.
Denn obwohl Ecevit in einem CNN-Interview selbst für den Fall eines Angriffs auf den Irak türkische Unterstützung versprach, kann die Regierung sich der Stimmung im Lande nicht sicher sein. Nicht nur die Führer der islamischen Parteien, sondern auch Ecevit äußerten ihre Besorgnis über Übergriffe auf die muslimische Gemeinde in den USA und Westeuropa und forderten Bush auf, Muslime in den USA effektiver zu schützen. „Sollten die USA das ausgepowerte Afghanistan mit einem Flächenbombardement überziehen, wird die Stimmung in der Türkei kippen“, sagt Akgün.
Selbst der kemalistische Generalstab, das Bollwerk gegen den Islamismus in der Türkei überhaupt, steht dem „Kreuzzug“ gegen das Böse mit großer Skepsis gegenüber. Dem Militär nahe stehende Kolumnisten erinnern daran, dass die Türkei mehrfach vergeblich bei ihren Verbündeten die Solidarität gemäß Artikel 5 Nato-Vertrag eingeklagt hätte, nachdem das Land „von außen durch Terroristen angegriffen wurde“.
Immerhin hofft man, dass sich in der Nato die türkische Terrorismus-Definition stärker durchsetzen und damit Schluss gemacht wird, dass „die Terroristen der einen die Befreiungskämpfer der anderen seien“, wie Ilnur Cevik in der Daily News schrieb. Schließlich, so Akgün, sei die Formulierung, wonach auch der Kampf gegen den internationalen Terrorismus eine Aufgabe der Nato sei, vor allem auf Drängen der Türkei in die Washingtoner Nato-Deklaration von 1998 aufgenommen worden.
Trotz solcher Irritationen wird aber offiziell kein Zweifel daran gelassen, dass die Türkei voll zu ihren Bündnisverpflichtungen steht. Prominente Militärs gehen davon aus, dass in Zukunft der strategische Wert der Türkei für die Nato wieder steigt. „Die unseligen Debatten um die europäische Verteidigungsinitiative gehören damit hoffentlich der Vergangenheit an. Europa braucht die Türkei dringender denn je.“ Trotz des weltweiten politischen Ausnahmezustandes hat das türkische Parlament am Montag in einer Sondersitzung nicht nur der Opfer in den USA gedacht, sondern auch mit den Beratungen zu einer umfassenden Verfassungsänderung begonnen, die das türkische Regelwerk EU-kompatibel machen soll. „Vielleicht“, so Akgün, „gibt es für die Türkei ja etwas Glück im Unglück, und die veränderte Weltlage erleichtert einen Anschluss an die EU.“ JÜRGEN GOTTSCHLICH
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