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„Eine kollektive Depression“

Janet Brodsky leitet die Beratungsstelle für Traumatisierte im Harborview Medical Center in Seattle im US-Bundesstaat Washington. Die Therapeutin bietet über eine Hotline psychologische Hilfe an

Interview SABINE AM ORDE

taz: Nach den Terrorangriffen in New York und Washington haben Sie hier in Seattle, über 4.000 Kilometer vom Geschehen entfernt, eine Beratungshotline eingerichtet. Warum?

Janet Brodsky: Weil dieses Ereignis einfach alle berührt hat. Die Leute hatten Angst, dass hier auch etwas passiert, dass eines der Hochhäuser wie der Columbia Tower angegriffen wird, oder die Boeing-Werke. Das Ausmaß dieser Anschläge war einfach so groß und unberechenbar.

Aus welchen Gründen haben die Leute bei Ihnen angerufen?

Das war ganz unterschiedlich. Eine Frau zum Beispiel hat ihre Kindheit in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs verbracht, und das ist jetzt wieder hochgekommen. Andere haben Angehörige oder Kollegen im World Trade Center verloren. Wieder andere, die aus Ländern wie Ostafrika oder dem Nahen Osten stammen und bereits bei uns in Behandlung sind, haben Angst vor Angriffen von Amerikanern. Ein Mann hat gesagt, dass er sich manchmal gar nicht auf die Straße traut.

Viele Leute haben aber gleichzeitig das Gefühl, dass die ganze Bedeutung der Ereignisse noch nicht wirklich in ihr Bewusstsein vorgedrungen ist.

Wenn unsere Psyche eine so außergewöhnliche Erfahrung verarbeiten muss, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir versuchen, sie zu verdrängen, oder wir durchleben sie immer wieder. Das kann ein paar Tage dauern, aber auch viel länger. Bei posttraumatischen Störungen nehmen nach etwa drei Monaten die Reaktionen bei etwa der Hälfte der Menschen ab, andere haben bleibende Schwierigkeiten.

Welche?

Manche Leute haben Alpträume, in denen Menschen aus Wolkenkratzern springen. Andere bekommen Depressionen oder Flashbacks. Ganz viele fühlen sich verletzt, so als hätten sie tatsächlich offene Wunden. Diese Menschen reagieren viel empfindlicher, sind schneller ärgerlich und aggressiv. Dazu kann das Gefühl von Beziehungslosigkeit kommen, Unfähigkeit, das normale Leben zu leben, auf die Straße zu gehen, Verlust von Vertrauen in andere Menschen. Als die ersten Flugzeuge wieder geflogen sind, haben viele Leute hochgeschaut, so als würden sie sich fragen, stürzen sie auf uns ab? Dieses Gefühl, dass Flugzeuge in den meisten Fällen oben bleiben, war plötzlich nicht da.

Welche Folgen hat das?

Viele Amerikaner werden nicht mehr fliegen, zumindest für eine bestimmte Zeit, auch wenn die Sicherheitsbestimmungen verschärft werden. Das Vertrauen in die Sicherheit hier im Land nimmt ab. Die Leute werden mehr Angst voreinander haben, vor Fremden oder solchen, die fremdartig aussehen, und sie werden darauf intoleranter und aggressiver reagieren.

Wenn in der Langzeitperspektive die Schutzmechanismen nicht mehr funktionieren, was passiert dann?

Das ist schwer zu sagen . Bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen, die zum Beispiel ihren Partner durch ein Verbrechen verlieren, dauert der Schmerz lange an, häufig um die zwei Jahre. Gesamtgesellschaftlich könnte die Konsequenz eine Hoffnungslosigkeit sein, das Gefühl, egal, was wir tun, wir werden gehasst. Eine Art kollektive Depression also.

Wird die Verarbeitung erschwert, weil es bislang keinen nachweisbaren Täter gibt?

Auf der individuellen Ebene ist es für die meisten Menschen beängstigender, wenn es keinen Schuldigen gibt. Wenn du weißt, wer es war, kannst du darauf reagieren. Wenn es keinen klaren Täter gibt, stellen die Leute Vermutungen an, so war es nach dem Anschlag in Oklahoma City, so ist es jetzt auch. Wir wissen jetzt, dass es über fünfzig Täter gibt und sie bislang nur ein paar geschnappt haben. Es könnte also genauso der Nachbar, der Ladenbesitzer an der Ecke gewesen sein.

Muss, aus dieser Perspektive gesehen, Präsident Bush also schnell handeln?

Psychologisch kann das durchaus sinnvoll sein, aber schnell allein auf das Bestrafen einzuschwenken führt auch dazu, dass das, was darunter liegt, ausgeblendet wird, also die Sorgen und die Fragen, die plötzlich hochgekommen sind: Woher dieser Hass auf die USA kommt, was es für Menschen in anderen Ländern bedeutet, die seit Jahren oder Jahrzehnten mit Terror leben müssen. Ein Teil der Unsicherheit bleibt dann.

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