: Theater schööön!
Andreas Kriegenburgs „Kinder des Olymp“ am Thalia zeigt Mut und Liebe zum Pathos ■ Von Karin Liebe
War da nicht ein zaghaftes Buh? Nein, doch nur ein verunglückter Bravo-Ruf. Beim brausenden Schlussapplaus fühlt sich die Beobachterin sehr allein. So allein wie vor kurzem, als alle Welt die Fabelhafte Welt der Amélie ganz fabelhaft fand. Wie herzlos kam sie sich vor, bei einem so poetischen und bildertrunkenen Kinomärchen nicht auch dahinzuschmelzen!
Nun also hat Andreas Kriegenburg zur Spielzeiteröffnung am Thalia Theater ein anderes poetisches Kinomärchen auf die Bühne gehievt. Wie Amélie spielt es im Paris der pittoresken Künstlerkneipen und charmanten Altbauwohnungen: Die Kinder des Olymp, von Marcel Carné nach einem Drehbuch von Jacques Prévert noch im besetzten Paris gedreht und 1945 nach der Befreiung uraufgeführt. Und Kriegenburg, seit dieser Saison Oberspielleiter am Thalia, nimmt diesen romantischen Filmklassiker ernst, sehr ernst. Pathos bleibt Pathos, Melodramatik bleibt Melodramatik. Ein Theater der großen Gefühle, der expressiven Gesten, der grandiosen Bilder. Neigt sich die Ära des Zynismus und des Pop dem Ende zu?
Theater schööön. Kriegenburgs antinaturalistische Inszenierung schwelgt in Farben und Tönen, verbindet Hanswurstiaden und Clownerie, Pantomime und Slapstick, Pathos und Kitsch zu einem Feuerwerk der Bilder. Die bestechend schöne Bühne von Robert Ebeling ist eine Art geflochtener Bastkorb mit der Öffnung zum Publikum hin. Aus diesem lichtdurchströmten Wunderkasten fließt sehnsüchtige Akkordeonmusik, der Bühnenkorb wird zum Bienenkorb, aus dessen Poren die Menschen - Gaukler, Schauspieler, Pantomimen – in alle Richtungen sirren.
Ein Geflecht der Be-ziehungen, das ständig in neue Farben getaucht wird, ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel zwischen vier Männern und einer Frau. Zuerst ist die schöne Garance (Judith Hofmann) mit dem Dieb und Dichter Lacenaire (Helmut Mooshammer) liiert, dann zieht sie mit dem Schauspieler Frédérick (Felix Knopp) zusammen und verliebt sich in den Pantomimen Baptiste (Hinnerk Schönemann). In dieser beeindru-ckenden Kennenlernszene bringt Kriegenburg das Theater wirklich zum Schweben: Die Drehbühne senkt sich hinab in ein Etablissement, bei dem die Schwerkraft nicht mehr gilt. Die Gäste des Kellerlokals kleben, festgezurrt an ihren Stühlen, an der Decke oder an den Seiten. Hier wird der blinde Bettler, der Baptiste in das Kellerlokal hineingelockt hat, wieder sehend, hier fordert der schüchterne Pantomime forsch Garance zum Tanz auf, hier beginnt eine große, unerfüllte Liebe. Liebe ist so einfach, sagt die Schöne und will sich ihm hingeben. Doch Baptiste verlangt die ausschließliche, die absolute Liebe, die sie ihm nicht geben kann. In einer wunderschönen Szene fliegt Garance wie ein Schmetterling auf einer großen Schaukel, und Baptiste sucht vergeblich nach ihr zu haschen. Als er schließlich ein Schmetterlingsnetz holt, ist sie längst fort. Stattdessen drängt sich ihm Nathalie (Doreen Nixdorf) auf, die ihn seit langem liebt und an deren Schultern Insektenflügel schweben. Missmutig stülpt Bap-tiste das Netz über Nathalie – und heiratet sie schließlich.
Kriegenburg sprüht ein Feuerwerk der Ideen ab und scheut weder Kitsch noch Pathos oder Running Gags. Ständig stoßen sich die Schauspieler die Köpfe, wenn sie durch die niedrigen Türen abgehen. Die Polizisten sind Lachnummern und nuscheln kopfüber von der Decke hängend synchron. Bap-tiste!, haucht es sehnsuchtsvoll aus allen Ecken des Bühnenkorbs, Garance!, schallt es zurück. Stimmen überschlagen sich, die Chanteuse (Claudia Renner) kiekst wie Nina Hagen in ihren besten Zeiten. Eine Gratwanderung, bei der immer wieder das Sentiment zum Sentimentalen überspringt, die expressive Geste zum Pathos gefriert. Die Premierenzuschauer scheinen den Bühnenzauber zu genießen. Und die Beobachterin staunt. Die Zeiten ändern sich.
nächste Vorstellungen: 27. + 28.9., 20 Uhr, Thalia Theater
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