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Mit Andacht gegen die Ohnmacht

„Ich habe es zu Hause nicht ausgehalten“, sagt eine junge Frau auf dem Union Square. „Was wird passieren? Ich habe gehört, sie ziehen Reservisten ein“

„Erst wenn mehr Gerechtigkeit auf der Welt herrscht, hört der Terror auf“ „Kriegsgegner sind Spinner. Wir müssen die Terroristen finden und platt bomben“

aus New York DAVID SCHRAVEN

Eine junge Frau hockt auf dem Boden am Union Square. Vor ihr brennen Kerzen. Irgendwer ist auf das Denkmal von George Washington geklettert. Er hat dem ersten Präsidenten der USA eine Friedensfahne an die ausgestreckte Hand gebunden. Sie weist nach vorn. Die junge Frau, Esther heißt sie, legt einen Brief in das Lichtermeer auf dem Platz im Süden Manhattans. Er ist an die Vermissten vom World Trade Center gerichtet. „Wir trauern um euch“, steht darin geschrieben.

Der Union Square ist ein Ort der Andacht. Das Lichtermeer wächst, in ihm liegen Blumen, Briefe, Bilder der Vermissten. Ein budhistischer Mönch zündet Räucherstäbchen an. Ein Mann schlägt eine Trommel im Herzschlagtempo.

Auf dem New Yorker Union Square wird die neue Friedensbewegung geboren. Jeden Tag versammeln sich hier New Yorker: Studenten, Angestellte aus dem Finanzdistrikt, Lehrer, Künstler, besorgte Menschen. Esther ist eine von ihnen. Sie besucht die New York City University. „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Ich fühle mich so ohnmächtig.“

Esther ist aus Brooklyn herübergekommen. Auf dem Platz drängen sich einige hundert Menschen. Jemand hat einen Verstärker mitgebracht. Eine Frau in Ordenstracht singt „God bless America“. Pärchen streifen umher, lesen Flugblätter, die an den Zäunen um die Wiese hinter dem Washington-Denkmal hängen. Esther ist unsicher. „Was wird jetzt passieren? Ich hab gehört, sie ziehen Reservisten ein.“ Ein Mann spricht sie an. Sie lächelt und steht auf. Sie gehen zu einer kleinen Gruppe, die sich am Rand gebildet hat. Gemeinsam fängt die Gruppe an zu singen. „We shall overcome“. Sie halten sich an den Händen.

„Was am Union Square passiert, ist das Seltsamste, was ich je erlebt habe“, sagt Deirdre Sinnott, Koordinatorin im International Action Center (IAC). Sie sitzt in ihrem Büro in der 14. Straße, downtown Manhattan, nur Minuten vom Platz entfernt. „Die Leute wissen nicht, was abgeht. Sie wissen nur: Irgendwas läuft hier gründlich schief.“

Seit Tagen diskutieren die Menschen auf dem Platz. Ein rothaariger Mann schreit: „Ich kann diese Ungerechtigkeit nicht mehr ertragen. Was soll ein Vater in Palästina machen, wenn sein Kind in seinen Armen erschossen wird. Wir tragen Mitverantwortung. Denn der hasst uns.“ Ein anderer brüllt zurück: „Was hat ein Feuerwehrmann aus Queens damit zu tun. Er ist verbrannt. Ich hasse die Terroristen.“ Einige Schritte weiter zündet eine Frau Teelichter an. Sie bildet mit ihnen das Wort „Why“ und ein Fragezeichen.

Das IAC ist ein Zentrum der Grassroots-Bewegung. Es hat sich nach dem zweiten Golfkrieg von 1991 gegründet. Das Büro befindet in einem großen Raum, braune Schultische, von denen das Furnierholz abblättert, bilden ein Rechteck. An den Wänden hängen Plakate von Mumia Abu-Jamal, des schwarzen Bürgerrechtlers und Journalisten, der 1982 wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilt wurde und seither in der Todeszelle sitzt.

„Die Leute auf der Straße kennen nicht die Ursachen für den Hass der Terroristen“, sagt Deirdre Sinnott. „Die Jugendlichen haben keine Ahnung vom Golfkrieg und seinen Ursachen. Sie wissen nicht, dass die US-Truppen in Saudi Arabien für viele Muslime Gottesfrevel sind, dass die Menschen im Irak verhungern, weil die USA die Sanktionen unterstützen. Sie wissen nicht, dass das Regime in Algerien von unserer Regierung unterstützt wird.“ Das IAC wolle aufklären. „Wir gehen in die Unis und verteilen Bücher. Wir laden Leute zu Diskussionsrunden ein. Wir müssen die Ursachen des Hasses verstehen, um sie zu bekämpfen.“

Am Freitag ging die erste Friedensdemonstration vom Union Square aus. Der Marsch führt an diesem Tag über den Broadway zum Times Square. Ein katholischer Priester hält eine Rede: „Wir wollen die Menschen in Afghanistan nicht bombardieren. Wir hassen sie nicht. Sie sind keine Terroristen.“ Einige Dutzend Demonstranten rufen im Sprechchor: „Wir lieben euch.“ Wie viele sind heute auf dem Times Square? Vielleicht 600, schätzt die Polizei.

„Mehr als 3.000“, sagt Laura Durkey. Sie ist aktiv in der Gruppe „People for Peace“ an der Columbia University. Die Studenten versuchen den Krieg aufzuhalten. „Wir sind eine junge Gruppe, gerade erst dabei, uns zu finden“, so Durkey. Beim ersten Treffen am Donnerstag nach den Anschlägen waren es 200. Die Demonstration am Freitag war ihre erste Aktion. Am Montag dieser Woche fand auf dem Campus die erste Großveranstaltung statt. Ein Teach-in.

Vor der Uni-Bibliothek haben die Aktivisten eine Bühne aufgebaut. Etwa 400 Studenten hören den Rednern zu. Ein leichter Nieselregen fällt. Paul Martin ist Direktor am Zentrum für Menschenrechte. „Die Ursache für den Hass liegt in der Globalisierung“, sagt er. „Erst wenn mehr Gerechtigkeit auf der Welt herrscht, hört der Terror auf.“ Die Studenten klatschen.

Carmen Trotta von der Liga der Kriegsgegner steht ein wenig abseits. Er fällt in der Menge auf. Er ist in den Fünfzigern und leicht ergraut. Seit Jahren ist er in der Lateinamerika-Arbeit aktiv. „Die neue Friedensbewegung stützt sich auf zwei Säulen“, sagt Trotta. Auf der einen Seite seien die Jugendlichen, die einen enormen Nachholbedarf an Information haben. Auf der anderen Seite stünden die alten Aktivisten, die sich seit langem gegen die Militarisierung der USA wehren. Zu ihnen gehörten neben linken Organisationen auch viele kirchliche Gruppen aus allen Glaubensrichtungen. „Die Studenten sind die aktiveren, die Älteren bilden mit ihren seit langem vernetzten Strukturen das Rückgrat der Bewegung.“

In der Cafeteria hinter der Bibliothek ist vom Auflauf der Kriegsgegner nicht viel zu spüren. Am schwarzen Brett künden Plakate von Bildungsreisen: drei Wochen Irland für 825 Dollar. Es sind noch Plätze frei. Ein Plakat der Spartakisten ruft die Arbeiter Amerikas zur Revolution auf. Ein asiatischer Student steht in der Schlange vor dem Kaffeautomaten. Auf seinem blauen Pullover prangt in fetten Buchstaben der Schriftzug Columbia University. „Die Kriegsgegner sind alle Spinner“, sagt er. „Wir müssen die Terroristen finden, identifizieren und platt bomben.“

Auch in der Öffentlichkeit findet die Friedensbewegung kaum statt. Weder über das Teach-in noch über die Demonstration am Freitag wurde in den wichtigen Zeitungen der Stadt berichtet. In einer am Montag publizierten Meinungsumfrage des Fernsehsenders CNN und der Zeitung USA Today erreicht Präsident George Bush ein Rekordhoch: 90 Prozent der Amerikaner unterstützen seine Kriegspolitik.

Am kommenden Samstag trifft sich die neue US-Friedensbewegung zur ersten Großdemonstration in Washington. Mehr als 400 Gruppen rufen zu einem „Marsch aufs Weiße Haus“ auf. In etlichen Städten, die zu weit von Washington entfernt sind, finden gleichzeitig Demonstrationen statt. Es wird die Nagelprobe für die neue Friedensbewegung. „Dann wissen wir, wie viele Menschen wir mobilisieren können“, sagt Deirdre Sinnott vom IAC.

Auf dem Union Square ist Esther den zweiten Abend da. Sie hat ein Plakat dabei: „Krieg ist nicht die Antwort.“ Esther wird nach Washington fahren.

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