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Ein unmoralisches Angebot

Golfkrieg und Kosovokrieg waren völkerrechtlich legal. Die geplanten Operationen gegen den Terror sind es nicht. Die Krise könnte zum dritten Weltkrieg werden

Koloniale und neokoloniale Interessen sabotierten die Demokratisierung der arabischen Welt

Dem Massenmord von New York und Washington sind mehr als sechstausend Menschen zum Opfer gefallen. Sie verbrannten, erstickten und verdursteten mit gebrochenen Gliedern unter Tonnen von Schutt. Dieser Massenmord war ein Verbrechen, wie es die Menschheitsgeschichte so noch nicht gekannt hat. Identifizierbare und belangbare Täter über die Selbstmordattentäter hinaus sind nicht bekannt, und jene Hinweise, die den legendären Ussama Bin Laden überführen sollen, hätten vor keinem US-amerikanischen Schwurgericht Bestand.

Diese tausendfache Verletzung der Menschenwürde war kein Genozid, wohl aber ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie es etwa das Statut des Internationalen Gerichts für das ehemalige Jugoslawien festlegt: Eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit machen sich Personen schuldig, „wenn diese in einem ob internationalen oder internen bewaffneten Konflikt begangen werden und gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind: Mord; Ausrottung; . . . andere unmenschliche Handlungen.“

Die europäischen Reaktionen auf das völkerrechtlich nicht vorgesehene Verbrechen waren eher aus Angst vor den USA denn vor dem Terror gespeist. Indem die europäischen Nato-Mitglieder vermeintlich klug mit einem Vorratsbeschluss zum Bündnisfall reagierten und an das butterweiche Kriterium gebunden haben, dass der Angriff „von außerhalb der Vereinigten Staaten gesteuert wurde“, haben sie sich und den USA einen Freibrief für beliebige weltweite Aktionen über beliebig lange Zeiträume ausgestellt. Die geplanten Operationen mögen auf den ersten Blick irgendwie im Interesse der Nato-Mitgliedstaaten liegen, unterminieren jedoch ihre Wertbasis: den Anspruch, zwar nicht universale Gerechtigkeit walten zu lassen, wohl aber die weltweite Verrechtlichung beim Lösen internationaler Konflikte voranzutreiben. Der Vorratsbeschluss überschreitet in seiner Unbestimmtheit Geist und Buchstaben des Nato-Vertrags in Richtung auf eine beliebig auslegbare und ermächtigende Generalklausel. „Von außen“ kann schließlich vieles heißen. „Außen“ ist überall, wo die USA über keine Territorialrechte verfügen. Ebenso unbestimmt wirkt der Begriff „gesteuert“! Vor allem aber – und dabei geht es nicht um militärische Ausstiegsszenarien – stellt sich die alles entscheidende politisch-rechtliche Frage: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eines fernen Tages der Nato-Rat die Beendigung des Bündnisfalls feststellt? Etwa wenn weltweit mindestens fünf Jahre lang kein einziger terroristischer Akt mehr verübt worden ist?

Vor Jahren haben die UN Grundsätze für Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgestellt: „Wo immer sie begangen wurden, bedürfen (sie) einer Untersuchung; und Personen, gegen die Beweise vorliegen, dass sie solche Verbrechen begangen haben, sind aufzuspüren, festzunehmen, vor Gericht zu stellen und, falls für schuldig befunden, ihrer Strafe zuzuführen.“

Vor allem gefährdet der geplante Waffengang die internationale Sicherheit noch vor dem ersten Schuss. Das gilt auch für Deutschland. Als die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages der Nato und den USA die Bereitstellung „militärischer Fähigkeiten“ zusicherten, setzten sie sich dem Risiko aus, gegebenenfalls „uneingeschränkte Solidarität“ üben zu müssen und damit nicht nur das Völkerrecht, sondern auch europäische und nationale Interessen zu verletzen. Von dem heute schon realen Leid der Fliehenden, von einer Hungerkatastrophe und von „Kollateralschäden“ bedrohten Afghanen war dabei noch gar nicht die Rede. Anders als im Golfkrieg, als tatsächlich das Völkerrecht wiederhergestellt wurde, und anders als im Kosovokrieg, als es immerhin um die Abwendung eines Genozids zu gehen schien, ist der derzeit geplante Waffengang der USA und ihrer Verbündeten weder völkerrechtlich legal noch moralisch legitim.

Die USA haben den Palästinakonflikt schleifen lassen? Unter den Attentätern findet sich kein Palästinenser

Freilich hat die sich neu formierende Friedensbewegung kaum dazugelernt. Reflexhaft neigt sie dazu, in naivester Weise strukturelle Ursachen zu benennen oder das Opfer anzuklagen. Schlichtere schreiben den USA selbst die Schuld am Anschlag zu, Anspruchsvollere verweisen auf die Globalisierung und die Spaltung der Welt in Arm und Reich. Der Hinweis auf die Globalisierung ist indes banal – was hätte nicht mit ihr zu tun? Sie erklärt ungefähr so viel wie der Hinweis auf den Kapitalismus, wenn unterschiedliche Eigentumsdelikte, vom kleptomanischen Ladendiebstahl über Bilanzfälschungen bis zum brutalen Raubmord, zu deuten sind. Gegen die ursächliche Rolle der Armut als Hintergrund des Massenmords spricht zunächst, dass die Täter wohlhabende, gebildete Männer waren und auch der virtuelle Hauptverdächtige – Bin Laden – kein armer Mann ist. Wenn er oder sein Vater durch strukturelle Gewalt gedemütigt wurden, dann durch die der saudischen Gesellschaft, von der sie schließlich profitierten. Dennoch: Wurde Bin Laden – angenommen, er sei am New Yorker Anschlag schuld – nicht von der CIA unterstützt? Gewiss. Dabei sollte man jedoch den damals noch existenten Kalten Krieg nicht vergessen. Immerhin hat niemand die Sowjetunion 1979 gezwungen, in Afghanistan einzumarschieren und damit den Widerstand der Mudschaheddin zu provozieren. Will man die USA dafür kritisieren, dass sie den antisowjetischen Widerstand unterstützten?

Die USA haben das Klimaabkommen boykottiert und den ABM-Vertrag aufgekündigt! Warum kam der Terror dann nicht aus Russland oder Brasilien? Sie haben die Lösung des Palästinakonflikts schleifen lassen? Unter den Attentätern findet sich kein Palästinenser, und nicht einmal die israelische Regierung unterstellt ihnen eine Beteiligung. Schließlich wurde das Attentat schon zu einer Zeit vorbereitet, als sich die USA im Nahost-Friedensprozess höchst konstruktiv betätigt haben! Haben nicht Weltbank und IWF unter Führung der USA den Süden immer tiefer ins Elend gestürzt? Soweit es sich dabei nicht um eine verschwörungstheoretische Projektion handelt, gilt noch immer – auch und gerade in der Weltgesellschaft –, dass strukturelle Gewalt in diesem Fall von der auch von uns gelebten und geliebten kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausgeht. „Der Arme“, so hat es Hegel über die Paupers seiner Zeit unüberbietbar deutlich gesagt, „der Arme ist . . . mein Wille.“ Wer von diesem Menschheitsverbrechen gelernt haben will, dass die Globalisierung sozialverträglich gestaltet werden müsse, gibt ihm einen Sinn, der dem Leiden der Opfer Hohn spricht. Wenn denn wirklich die strukturelle Gewalt der Weltgesellschaft die Ursache des Massenmords war, dann sind wir, jeder für sich in seinem Wohlstand, die Schuldigen, nicht die USA.

Aber so weit muss man nicht gehen. Die Ursachen dürften komplexer, aber eben auch trivialer sein: Es handelt sich um vielfältige ökonomische, kulturelle und religiöse Facetten der missglückten und halbierten Modernisierung ganz unterschiedlicher arabischer und islamisch geprägter Gesellschaften, um eine höchst vermittelte Spätfolge des europäischen Kolonialismus bzw. des Triumphalismus des christlichen Abendlandes. Das spezifisch Arabische liegt – das heißt nicht, Samuel Huntington Recht zu geben – in der immer wieder von kolonialen und neokolonialen Interessen sabotierten Demokratisierung der arabischen und zu Teilen der islamischen Welt. Über Jahrzehnte hat der Westen die eigenen Verheißungen mit Füßen getreten – beginnend mit der Aufteilung der arabischen Territorien des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg über den Suezkrieg bis hin zur Unterstützung der diktatorischen FNL gegen die demokratisch gewählte islamistische Mehrheit in Algerien.

Dieses Problem ist jedoch nur langfristig und politisch, auf keinen Fall aber mit einem Jahre währenden Feldzug sowie einer unübersehbaren Zahl militärischer, verdeckter Aktionen zu begegnen, die die gegenwärtige Krise in den dritten Weltkrieg überleiten könnte.

Der Hinweis auf die Globalisierung alsUrsache des Terrorsist banal – was hätte nicht mit ihr zu tun?

Womöglich wird dieser dritte Weltkrieg ja ganz anders aussehen, als wir ihn uns nach Verdun, Stalingrad oder Hiroschima vorstellen. Womöglich wird er als low intensity conflict über Jahre weltweit vor sich hin schwelen, von wachsendem Terror und Counterterror begleitet, bis dann irgendwann weit weg in Südasien, etwa in Kaschmir, die ersten Atomgranaten zum Einsatz kommen. Für Indien und Pakistan, zwei instabile, fundamentalistisch regierte Staaten, haben die USA die Restriktionen für Nuklearwaffen bereits aufgehoben.

MICHA BRUMLIK

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