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„Ein Ethos wie bei Solschenyzin“

Wie will Kurt Germann (54) leben? Der ehemalige Landkommunarde lebt jetzt im russischen Sibirien – in einem Vorort von Jakutsk. Dort will er Waren so produzieren, dass der Widerspruch zwischen den Zielen des Produzenten und denen des Konsumenten aufgelöst wird

interview HELMUT HÖGE

taz: Die Fluchtrichtung der Hiesigen verläuft meist nach Süden, bei Ihnen ist es anders . . .

Kurt Germann: Ich habe mal ein paar deutsche Genossen in Indonesien besucht, die Anfang der Achtzigerjahre mit einer auf Java selbst gebauten Dschunke namens „Tunix“ unterwegs waren. Nun waren sie in Jakarta geschäftlich tätig geworden und kultivierten einen halbkolonialen Lebensstil.

Das kann man heute auch im sibirischen Jakutsk, wo Sie heute leben.

Vor der Revolution gab es hier schon hunderte von Genossenschaften, Artels. Das kommt jetzt alles wieder. Der Vorteil der Kälte ist, dass die Leute enger zusammenarbeiten. Und dass sie wegen der monatelangen Dunkelheit viel lesen. Deswegen ist ihnen hier auch der Gedanke nicht fremd, dass man sein Brot anders als mit Warenproduktion verdienen kann.

Steht die Warenproduktion denn dem wirklichen Leben im Weg?

Die Frage zielt auf den Kern der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, der nach Meinung vieler falsch ist.

Können Sie diesen Kern kurz zusammenfassen?

Es geht dabei um das kapitalistische Wertgesetz, dass die Unternehmen zwingt, ständig die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ zu verändern. Das heißt: Sie stehen unter dem Zwang zur „Rationalisierung“ – um die Produktivität zu steigern. Da der Vernutzung der Menschen dabei Grenzen gesetzt sind, tritt an die Stelle des „absoluten Mehrwerts“ der so genannte „relative Mehrwert“ in den Vordergrund der abstrakten Gewinnproduktion. Marx nannte es die „steigende organische Zusammensetzung des Kapitals“.

Das heißt?

Er bezeichnete damit den Zwang zur Erhöhung des relativen Anteils von Sachkapital gegenüber der menschlichen Arbeitskraft. Dieser Prozess ist nicht schrankenlos: Die moderne, betriebswirtschaftliche, auf abstrakte Gewinnmaximierung ausgelegte Produktionsweise lässt sich nicht unendlich ausdehnen. Denn wenn der ökonomische „Wert“, der sich in der Form des Geldes „darstellt“, weder eine Naturtatsache noch ein vertracktes „Ding“ ist, sondern eine, nach Marx „fetischisierte“ gesellschaftliche Beziehungsform, dann ist es allein die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, durch die „Wert“ entsteht, während das Aggregat des Sachkapitals nur „Wert überträgt“ . . .

Womit also nicht allein die Arbeit wertschaffend ist – und letztlich die auf dem „Wert“, das heißt auf dem zum System gewordenen Geld beruhende Warenproduktion an sich selbst erstickt. Tut sie aber noch nicht . . .

Doch! Absolut immer mehr Produkte repräsentieren immer weniger ‚Wert‘, und die Zusammenbrüche dieser Wirtschaftsweise sehen wir an allen Ecken und Enden, das heißt Peripherien. Darum geht es aber gar nicht.

Sondern?

Was wir in Sibirien versuchen, ist der Aufbau einer andersartigen Produktion. Bisher war es so, dass man als Produzent mit möglichst wenig Arbeit viele Produkte zu einem hohen Preis herstellen wollte bzw. musste, während man als Konsument an billigen und guten Waren interessiert war. Das galt auch für den Sozialismus, wo man ebenfalls Waren produzierte. Nur die Unternehmerfunktion war ja verstaatlicht. Während der Kapitalismus den Produzenten jetzt in Billiglohnländer abschiebt, hat der Sozialismus permanent den Konsumenten gedemütigt. Diesen Widerspruch wollen wir im Oblast Jakutsk praktisch lösen.

„Geh nach Sibirien, junger Mann, dort wachsen dir die Gürkchen ins Maul“, riet Gorki einem Arbeitslosen. Heute zieht die Arbeitslosenkarawane von Sibirien gen Westen.

Das ist nicht nur schlecht. Jetzt gehen all die, die sich für die Konsumentenseite entscheiden, die endlich anständig was verdienen und sich dann ebenso anständig was dafür kaufen wollen.

Der israelische Kibbuz zeigt, wie schnell eine alternative Produktion vom konsumistischen Umfeld aufgesogen wird – bis hin zur Beschäftigung von Fremdarbeitern, die nicht selten aus Russland kommen . . .

Dies ist nicht weniger ein Scheitern als der normale Geschäftsbankrott. Ich gebe hierbei zu bedenken, dass dieser auf Holländisch „schoonop“, Reinigung, heißt. In anderen Worten: Man ringt sich zu größerer Klarheit durch. Letztendlich braucht man eine andere Technologie, die mit dezentral nur unzulänglich umschrieben ist, für diese nachkapitalistische Gebrauchswertproduktion.

Das klingt nach Handwerksethos.

Ja, etwa so wie das Loblied, das Solschenizyn seinen „Iwan Denissowitsch“ im Gulag auf die „anständige Arbeit“ anstimmen lässt. Diesen Arbeitsethos gibt es aber schon länger in Sibirien – es kamen ja in der Vergangenheit nicht nur die Zwangsarbeiter hierher, sondern vor allem frei Siedelnde, was „auf dem Festland“ – in Russland nicht möglich war. Die, die man zuletzt mit Vergünstigungen anlockte, sind es jetzt auch, die wieder gehen – seitdem die Vergünstigungen nach und nach weggefallen sind.

Was ist mit denen, die blieben?

Die fangen an, sich hier zu engagieren – wenigstens in den Fabriken. Hier wird dauernd irgendwo gestreikt. Die Aktivisten der neuen autonomen Gewerkschaften sprechen von einer „Doppelherrschaft“, die sie aufrecht erhalten wollen, wenigstens gilt das für Ostsibirien. Auch da, in der Organisationsarbeit, geht es oft um reine oder kleine Gebrauchswerte. In Ostfriesland, wo ich herkomme, nennt man das Nachbarschaftshilfe.

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