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Innerdeutsche Grenze der Freude

Wieder wird die „Vollendung der inneren Einheit“ beschworen. Aber was ist zu tun, damit aus unserer verspäteten Nation keine widerwillige wird?

Die fehlende Gründungslegende ist der Geburtsfehler unserer Republik

von WERNER SCHULZ

Dieser Tage bekommt der Begriff der inneren Einheit eine neue Dimension. Im Bündnis gegen den internationalen Terrorismus zeigt sich ein politischer Nachholbedarf, der uns keineswegs alle zu Amerikanern macht. Doch besagt die Haltung zur USA einiges über Stimmung und Zustand der eigenen Nation. Als Solidargemeinschaft beim Oder-Hochwasser bewährt, muss sich das vereinte Deutschland einer gewaltsamen Herausforderung stellen. Es geht um die Eindämmung grenzenloser Gewalt, um die Universalität der Menschenrechte. In die Bewunderung der Feuerwehrleute, die im Trümmerfeld von Manhattan Flagge zeigen, mischen sich Kriegsbefürchtungen und die Sorge vor Überreaktionen. Noch ist unklar, was uns die wehrhafte Demokratie wirklich abverlangen wird. Patriotische Hand-aufs-Herz-Gesten sind uns Deutschen durch gestreckte Arme vergangen. Das Bekenntnis von Guido Westerwelle: „I’m proud to be a German“ klingt schräg in deutschen Ohren. Trotz Kriegsgeschrei der Boulevardpresse mag kein Hurrapatriotismus aufkommen, bildet sich keine Nationale Front aller Parteien, die nur noch Deutsche kennt und Kritiker für heimatlos erklärt. Sollte sich am Ende aus den Lehren des vergangenen Jahrhunderts ein neuer deutscher Nationalcharakter entwickelt haben?

Ausgerechnet zum Tag der deutschen Einheit wird es wieder hehre Worte zur Vollendung der inneren Einheit geben. Aber ist dieses Ziel nicht längst erreicht? Mit Zustimmung zu Grundgesetz und staatlicher Ordnung? Führt das Gerede vom nötigen Zusammenwachsen zwischen Ost und West tatsächlich weiter? Brauchen wir nicht eher Verständnis für Vielfalt und Akzeptanz von Unterschiedlichkeit?

Dem Leitbild von der „Vollendung der inneren Einheit“ fehlt die Zielgenauigkeit – es bleibt ein Verlegenheitsbegriff, der an Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Novalis’ blauer Blume der Romantik erinnert. Jeder kann sich etwas darunter vorstellen – und alle etwas anderes. Ein Witzbold meint, die innere Einheit sei dann erreicht, wenn es auf Sylt ebenso viele ostdeutsche Millionäre gibt wie westdeutsche auf Rügen. Ist die innere Einheit vollendet, wenn eine Thüringerin so selbstverständlich Ministerpräsidentin in Hessen werden kann, wie ein Westfale zum König in Sachsen avancierte?

Der Runninggag vom ostdeutschen Empfinden („Wir sind ein Volk“) und seinem westdeutschen Echo („Wir auch“) verrät mehr über die mentale Spaltung im Lande, als alle soziologischen Studien und statistische Ost-West-Vergleiche zusammen. Nüchtern betrachtet ist das Trennende in Deutschland ebenso schnell gewachsen wie das Gemeinsame. Die unbestimmte Beschwörungsformel von der inneren Einheit führt deswegen zu Verständnisschwierigkeiten, weil der staatlichen Vereinigung kein vergleichbarer Wille zur inneren Ausgestaltung gefolgt ist. Und wo das Ziel nie klar definiert wurde, kann auch niemand sagen, wann es eigentlich erreicht ist. In Ermangelung besserer Kriterien wird sogar die PDS zum Gradmesser der inneren Einheit verklärt. Doch wer glaubt schon daran, dass Wowereit und Gysi mit einer Koalition im Roten Rathaus ganz Deutschland versöhnen könnten?

Warum die Politik auf die Einheit nicht vorbereitet war, ist heute eine müßige Frage. Jedenfalls zeitigt die Furcht vor einem nationalistischen Gemeinschaftsmythos aufschlussreiche Abwehrreflexe. Erinnern wir uns: Während im Umfeld der Leipziger Nikolai- und Dresdner Frauenkirche schwarz-rot-goldene Fahnen in einer Art Paulskirchen-Revival auftauchten, ging die Nationalhymne im Pfeifkonzert vorm Schöneberger Rathaus unter. Während im Osten noch ein Nationalbewusstsein bestand – trotz kruder Philosophie von der „sozialistischen Nation“ in den Farben der DDR – wurde es im Westen bereits unauffällig entsorgt. Während die DDR-Opposition neben dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ auch schwarz-rot-goldene Urkundenkordeln als Ausdruck einer anderen Staatsorientierung an der Kleidung trug, schielten die rebellischen West-68er nach den Sternen im blauen Europatuch. Doch wurde die nationale Frage nicht durch die westeuropäische Integration gelöst, sondern hat umgekehrt die Einheit Deutschlands die europäische Vereinigung voran gebracht. Das gilt auch weiterhin. Die europäische Perspektive bedarf der nationalen Verankerung. Insofern besteht die Vollendung der inneren Einheit im Ausbau eines modernen Nationalstaates. Hier ist längst nicht alles getan. Wir müssen aufpassen, dass aus der verspäteten Nation keine widerwillige wird, die vor der Überwindung der Teilungsfolgen kapituliert, drastische Unterschiede hinnimmt und dies aus Mangel an Kreativität und Elan als „Einheit in Vielfalt“ zum Idealzustand erhebt.

Leider fehlt dem vereinten Deutschland ein Lernprozess, aus dem eine Art Corporate Identity erwachsen könnte. Bis heute wird den einen – bis auf grünen Pfeil und Ampelmännchen – so gut wie alles, den anderen mehr oder weniger nur Geld und Geduld abverlangt. Der Begriff der neuen Bundesländer ist politisch falsch. Er behindert die Identitätsstiftung, weil er einen einseitigen Aufhol- und Anpassungsprozess unterstellt. Während „Diemenschenausdenfünfneuenbundesländern“ wie Eingeborene aus „Neufünfland“ die Regeln der westlichen Zivilisation erlernen, fallen die anderen bei Günther Jauchs Fragen zu Kultur und Geschichte der DDR regelmäßig durch – offenbar der einzige Ort, an dem sich Erfahrung und frühere Kenntnisse noch auszahlen. Kein Wunder auch, dass ein wachsender Teil der ostdeutschen Jugend die geforderte Sozialisation lieber gleich in Westdeutschland erwirbt, statt auf die unzureichende Vermittlung durch Eltern und Lehrer zu setzen.

So hält sich die Freude am Nationalfeiertag in Grenzen. Vielleicht auch, weil er etwas willkürlich auf den Kalender gesetzt wurde, sich mit keinem emotional nachvollziehbaren Ereignis verbindet. Streitet sich die politische Klasse, wie letztens geschehen, wird der Tag in München als Todestag von Franz-Joseph Strauß, in Dresden als Staatsakt begangen – getrennt voneinander.

Er könnte aber auch unser Verfassungstag sein. Woher sollte sonst der Verfassungskonsens kommen, wenn wir streng genommen gar keine Verfassung haben? Sondern ein Grundgesetz, in dem die Gültigkeitsfrist steht: „. . . bis das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschließt.“ Was dort als Auftrag fixiert und in einem historisch einzigartigen Moment bewusst übergangen wurde, erweist sich als Geburtsfehler des vereinten Deutschland. Uns fehlt eine gemeinsame Gründungslegende.

Noch immer wird dem deutschen Volk vieles zugemutet und letztlich wenig zugetraut. Volksentscheide könnten ja, wie in Irland, die große Politik durchkreuzen und mehr Überzeugungsarbeit und Legitimation verlangen. Wie vollzieht sich aber das „plébiscite les jours“ einer Nation, die keinen plebizitären Einfluss besitzt? Dabei war der Ruf: „Wir sind das Volk“ die klare Forderung nach direkter Demokratie. Doch obwohl sie mit ihrer Gewaltlosigkeit einen enormen Beitrag zur Bürgergesellschaft geleistet hat, wurde die friedliche Revolution lieber als Zusammenbruch eines Systems statt als demokratischer Aufbruch verstanden. Und so vergnügen wir uns heute mit der Feststellung, dass alle Macht vom Volk ausgeht und keiner weiß, wie sie zurückkommt. Kein Wunder, dass die Runden Tische nicht ins westdeutsche Fachwerkhaus der vertrauten Kreise, Zirkel und Kungelrunden passten.

Es fehlt das Gespür für demokratische, für nationale Symbole und deren einheitsstiftende Wirkung. Nicht mal zu einer neuen Nationalhymne hat es gereicht. So singen die Rechtsradikalen die erste Strophe des Deutschlandliedes, die Demokraten aller Couleur – sofern sie überhaupt noch singen in Zeiten, da Hymnen aus Handys klingeln – dagegen die dritte Strophe. Dabei steht mit Beethovens „Ode an die Freude“ – immerhin bis 1960 die Hymne der gemeinsamen Olympiamannschaft – und Brechts „Kinderhymne“ („Anmut sparet nicht noch Mühe“) eine geeignete Kombination zur Verfügung. Ein Deutschlandlied, das guten Traditionen und Absichten folgt – und nicht dem Zynismus der „Prinzen“, deren „Deutschlandhit“ das Land erregte.

Humanistische Werte lassen sich nicht einfach digital herunterladen

Statt mit zunehmendem Selbstbewusstsein, wie unsere Nachbarn, schlicht von Nationalkultur zu reden, Bindungskräfte und Werte zu beleben, findet bei uns eine verschwiemelte Debatte über deutsche Leitkultur statt – bis alle erschöpft in den Unterstellungen liegen und sich in Habermasschen Verfassungspatriotismus hüllen.

Es mag an Zumutung grenzen, in einem Staat, in dem ein früherer Bundespräsident den Satz geprägt hat, er liebe seine Frau und nicht sein Land, plötzlich Nationalstolz zu verlangen. Vielleicht könnten wir uns auf die bescheidene Formulierung des Publizisten Bernd Ulrich einigen: „Deutsch, aber glücklich“. Froh über einen Staat zu sein, der Demokratie, Bürgerrechte und soziale Sicherheit garantiert. Dessen internationale Achtung aus einer Politik erwächst, die Frieden, Ausgleich und Versöhnung fördert.

Kochs Rezept, mit Kruzifix und Fahne Nationalkultur ins Klassenzimmer zu bringen, ist kontraproduktiv. Es geht darum, was unseren Kindern in den Klassenzimmern vermittelt wird, dass sie soziales Verhalten, Zivilcourage und Toleranz lernen. Auch im Zeitalter der Digitalisierung lassen sich humanistische Werte nicht einfach herunterladen. Sie müssen täglich neu vermittelt und erlebt werden. Der Dialog der Kulturen muss bei uns beginnen.

Nach Auguste Renan basiert die Nation auf „gemeinsamer Erinnerung und dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft“. Daher wissen wir, dass dort, wo das Nationale verdrängt, unterschätzt oder den Nationalisten überlassen wird, Totalitarismus keimt. Jubel zum Anschlag auf das World Trade Center kam nicht nur aus dem Nahen Osten, sondern auch von der NPD. Es gibt keine Zweifel: Religiöser und politischer Fanatismus haben ähnliche Motive und Ziele. Deswegen sollten wir den Terrorismus im eigenen Haus bekämpfen und nicht durch Rasterfahndung und Generalverdacht das Problem der Fremdenfeindlichkeit noch verstärken.

Es geht um eine offene und freie Gesellschaft, die sich auch aus historischen Gründen einem modernen Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrecht öffnet. Und deren Bürger das Bekenntnis zu diesem Staat, die Einhaltung seiner Regeln mit kultureller Vielfalt verbinden. Damit ließe sich der Widerspruch zwischen der Inschrift am Westeingang des Reichstages, „Dem deutschen Volke“, und dem Erdkübel im Plenarbereich des Bundestages („Der Bevölkerung“) langsam auflösen. Die kyrillische Schrift an der Wand, von Rotarmisten hinterlassen, sollte aber im kollektiven Gedächtnis und dauerhaft erkennbar bleiben.

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