: Angst vor einem Biowaffen-Angriff
Politiker warnen vor einem Terroranschlag mit tödlichen Krankheitserregern. Die meisten B-Waffen-Experten hingegen halten einen großflächigen Angriff mit biologischen Kampfstoffen und Tausenden von Toten für eher unwahrscheinlich
von WOLFGANG LÖHR
Die Pockenviren waren nicht aufzuhalten. Nach knapp zwei Wochen waren bereits 16.000 Menschen in 25 US-Bundesstaaten infiziert. 1.000 starben, und täglich wurden neue Opfer registriert. Auch im Ausland griff die Seuche schon um sich: Aus zehn Ländern wurden erste Pockenerkankungen gemeldet. In drei Wochen, so die düstere Schätzung, werden es mindestens 300.000 Infizierte sein, ein Drittel davon wird sterben. Die Impfstoffe sind bereits ausgegangen, neue werden erst in vier Wochen wieder zur Verfügung stehen. Unvorstellbar das Chaos und die Panik, die unweigerlich ausbrechen würde, wenn dieses Horrorszenario Realität werden würde. Rund 70 Personen, zum Teil gestandene Politiker, nahmen an dem vom „John Hopkins Center for Civilian Biodefense Studies“ simulierten Biowaffen-Angriff teil. In dem als „Dark Winter“ bezeichneten Szenario sollte durchgespielt werden, wie und ob der „Nationale Sicherheitsrat“ die von einem Terrorangriff ausgelöste Epidemie in Griff bekommen kann.
Was im Juni diesen Jahres noch als Spiel – wenn auch mit ernsten Hintergrund – galt, scheint jetzt,nach den Flugzeuganschlägen auf das World Trade Center (WTC) und das Pentagon, für viele Menschen eine ernsthafte Bedrohung geworden zu sein. Das ganze Land ist in Alarmbereitschaft. Niemand weiß, ob nicht einnächster Anschlag mit biologischen oder chemischen Waffen bevorsteht. Vor Trinkwasserstauseen sind Wachmannschaften aufgezogen. Kliniken und Ärzte sind aufgefordert, besonders auf Krankheitssymptome zu achten, die auf mögliche Biowaffen zurückzuführen sind. Und die Bevölkerung deckt sich vorsorglich mit Gasmasken, Schutzanzügen und Riesenpackungen Antibiotika ein. Das gegen Milzbrand wirksame Bayer-Mittel „Cipro“ ist in New York schon seit Tagen nicht mehr erhältlich.
Nicht erst die Erkenntnis, dass sich die Attentäter Monate vor den Anschlägen ausgiebig über landwirtschaftlich genutzte Sprühflugzeuge informierten, schreckte die US-Sicherheitsbehörden auf. Bereits wenige Stunden nach dem Kollaps der WTC-Türme untersuchte eine aus 22 Spezialisten bestehende Sondereinheit der Nationalgarde den Trümmerberg in New York nach Spuren von Kampfgas oder Biowaffen. Sie konnten jedoch nichts finden.
Die Angst erzeugten erst die Politiker. So warnte wiederholt Justizminister John Ashcroft: „Der Terrorismus ist heute ein klare Gefahr für die Amerikaner“. Noch weiter ging die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gro Harlem Brundtland. Sie rief alle Länder dazu auf, sich auf einen Angriff mit biologischen oder chemischen Waffen vorzubereiten. Ihren Angaben zur Folge, gehen die Experten davon aus, dass vor allem die Erreger für Anthrax (Milzbrand), Pocken, Pest und das Bakteriengift Botulinus ganz oben auf der Liste der möglichen Biowaffen stehen.
Zudem machen zahlreiche, nicht nachprüfbare Gerüchte die Runde. So will die CIA auf Satellitenfotos erkannt haben, dass in Ausbildungslagern von Ussama Bin Laden chemische oder biologische Kampfstoffe an Hunden ausprobiert worden seien. Das Nachrichtenmagzin Newsweek will von einem anonymen FBI-Mitarbeiter wissen, dass Bin Laden-Anhänger auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei versucht hätten Milzbranderreger und Lebensmittelgift zu kaufen, offenbar erfolglos.
Beweise, dass Bin Laden im Besitz von B- oder C-Waffen ist, liegen keine vor. Zahlreiche Experten sehen daher auch keinen Grund in Panik auszubrechen. Auch David Heymann, Chef der Abteilung für Infektionskrankheiten bei der WHO, will im Gegensatz zu seiner Chefin von einer akuten Veränderung der Gefahrenlage nach den Anschlägen vom 11. September nicht sprechen. „Die Beunruhigung ist genau genommen nicht gestiegen – wir sind immer gleichbleibend beunruhigt“, sagte Heymann.
Lange Jahre hielt sich die Meinung, dass B-Waffen die „Atombombe des kleinen Mannes“ seien. Doch „solche Dinge kann man nicht in einer Badewanne oder Privatküche herstellen“, widerspricht Jean-Pascal Zanders vom Internationalen Friedensforschungsinstitut (SIPRI) in Stockholm. Falls Terroristen Anschläge mit Krankheitserregern verüben wollten, hätten sie mehrere Hürden zu überwinden. Zuerst müssten sie Forscher finden, die bereit wären, eine Terrorwaffe zu entwickeln. Dann müssten sie noch die Krankheitserreger beschaffen und unter hohen Sicherheitsmaßnahmen große Mengen davon herstellen. Selbst wenn dies gelänge, so Heymann, wäre die Logistik für einen Anschlag kompliziert. Denn sie könnten nur mit einer Rakete zu ihrem Ziel gebracht werden, die wiederum in einer genau berechneten Höhe explodieren müsste.
„Selbst ein effizienter Einsatz von B-Kampfstoffen mit Sprühflugzeugen ist alles andere als einfach“, erläutert der B-Waffenexperte Martin Schütz, vom Schweizer Labor Spiez, in der Neuen Zürcher Zeitung. „So müssten die versprühten Erreger eine ganz bestimmte Partikelgröße aufweisen, damit sie als Aerosol einerseits die nötige Stabilität und Fallgeschwindigkeit aufweisen und andererseits beim Menschen in die Lunge gelangen können, wo sie dann ihre pathogene Wirkung entfalten“. Die ideale Partikelgröße müsse zwischen 5 und 10 Mikrometer liegen. Die Fachexperten sind sich daher einig, dass ein großflächiger Biowaffeneinsatz mit Zehntausenden von Toten nur mit Unterstützung eines Staates möglich ist.
Vorstellbar bleibt ein kleinräumiger Angriff. „Etwa in geschlossenen Räumen oder in U-Bahn-Waggons“, sagt der Hamburger Biologe Jan van Aaken, vom Internationalen Sunshine Project, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Öffentlichkeit über Biowaffen zu informieren. Auch wenn nur wenige Menschen infiziert würden, so van Aaken, würde dies sicherlich ausreichen, „um eine landesweite Massenpanik zu erzeugen“.
Die einzige Möglichkeit sich dagegen zu schützen, ist ein funktionierendes Warnsystem. Für die meisten der als B-Waffen in Frage kommenden Krankheitserreger gibt es wirksame Gegenmittel. Voraussetzung ist jedoch, dass sie möglichst noch vor den ersten Krankheitssymptomen verabreicht werden. Ausgenommen davon sind jedoch die hoch infektiösen Pockenviren. Doch es gilt als unwahrscheinlich, dass Terroristen in ihren Besitz kommen können. Denn seit 1980 die Pocken für ausgerottet erklärt wurden, gibt es nur noch zwei Stellen, an denen die gefürchteten Viren gelagert werden: In den USA beim CDC in Atlanta und im russischen Koltsovo. Beide Labore stehen unter strenger Bewachung.
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