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Forschen und vernichten

Vor kurzem glaubten ein paar Denker wieder: Wir wissen alles über den Nationalsozialismus. Ernst Klees Geschichte der Mediziner im Dritten Reich und ihrer Karrieren nach 1945 belegt das Gegenteil

Die Psychiatrie wurde von den Nazis nicht missbraucht, sie brauchte die Nazis

von RUDOLF WALTHER

Seit Alexander Mitscherlichs Bericht über die Menschenversuche nationalsozialistischer Ärzte kennt man die Verbrechen deutscher Mediziner recht genau. Zudem hat Ernst Klee durch ein halbes Dutzend Bücher in den letzten 20 Jahren diese Kenntnisse entschieden präzisiert und vertieft. Sein neues Buch über die „Deutsche Medizin im Dritten Reich“ belegt jedoch schon nach wenigen Seiten, dass alles noch schlimmer und abgründiger war, als man bisher wusste. Dieser beklemmende Eindruck entsteht nicht zuletzt dadurch, dass Klee immer wieder auf die steilen Nachkriegskarrieren von Medizinern, Psychiatern, Pädagogen und Biologen hinweist, die vor 1945 mehr oder weniger direkt mit verbrecherischen Forschungsprojekten beschäftigt waren – und dagegen das Elend derer stellt, die dabei nicht mitgemacht haben. Klar wird: Noch besser als das notorisch gute Gewissen der furchtbaren Richter und Staatsanwälte war jenes der Mediziner und Psychiater – und daran anschließend das einer Öffentlichkeit, die von 1945 bis heute nichts mehr anstrebte als immer und immer wieder „Normalisierung“.

Paradigmatisches Beispiel dafür ist das Schicksal des Vererbungswissenschaftlers Max Ufer. Er arbeitete im Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für „Züchtungsforschung“ unter der Leitung des Botanikers Erwin Baur, einem konformistischen Karrieristen, der Ufer im Oktober 1933 aufforderte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen oder das Institut zu verlassen. Ufer beschützte seine Frau, rettete diese und sich ins rumänische Exil, wo sie zur Tarnung getrennt lebten. 1948 zog Ufer mit seiner Familie nach Afghanistan, wo es seiner Frau gesundheitlich jedoch schlecht ging. Der Forscher wandte sich daher an die Max-Planck-Gesellschaft (MPG), die Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, und bat darum, wieder eingestellt zu werden. In einem an Schäbigkeit nicht zu unterbietenden Gespräch stellte Institutsdirektor Wilhelm Rudorf an Ufer das Ansinnen, wegen dessen jüdischer Frau nicht auf dem Institutsgelände zu wohnen. Ufer entschloss sich deshalb, nach Brasilien zu emigrieren, und erhielt von der MPG eine beschämende Wegzehrung von 3.000 Mark – mit dem Hinweis, das geschehe „ohne Anerkennung rechtlicher Verpflichtungen“. Mit einem Wiedergutmachungsantrag scheiterte er 1956, weil sich ein Gutachter die bösartige Bemerkung erlaubte, er habe „sehr wenig publiziert“. Erst vor ein paar Monaten hat sich MPG-Präsident Hubert Markl bei den 82 Mitarbeitern entschuldigt, die nach 1933 emigrieren mussten. Eine finanzielle Entschädigung stellte er jedoch nicht in Aussicht.

Genau das Gegenteil bietet die Geschichte des Arbeitsphysiologen Heinrich Kraut: Er besaß als Gutachter die Unverfrorenheit, dem Nürnberger Militärgerichtshof vorzurechnen, die Nahrung für die Häftlinge in Konzentrationslagern und für die Zwangsarbeiter bei Flick und im IG-Farben-Konzern habe 20 Kalorien mehr enthalten, als es dem Durchschnittsbedarf eines deutschen Arbeiters entsprochen habe. Kraut wurde trotzdem Honorarprofessor in Münster, Direktor eines MPG-Instituts, Präsident sowie später Ehrenpräsident der Deutschen Welthungerhilfe – und zu guter Letzt Träger des Bundesverdienstkreuzes.

Neben solchen Einzellebensläufen zeichnet Klee auch die Geschichte jener Strukturen und Institutionen nach, in denen sich diese unglaublichen Geschichten abgespielt haben. Dazu gehört der rasante Aufstieg der Pseudowissenschaften „Rassenhygiene“, „Rassenkunde“, „Gesellschaftsbiologie“ und „Eugenik“, die nach 1933 Teil der Staatsdoktrin waren. Viele auf diesen Feldern tätige „Wissenschaftler“ kamen über die rechtsradikalen Freikorps schon in der Weimarer Zeit zur NSDAP und stellten sich nach 1933 in den Dienst des Regimes. Während Klee hier zusammenfasst, was die bahnbrechenden Studie „Rasse, Blut und Gene“ von Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayerts 1988 präsentierte, betritt er in anderen Bereichen Neuland: bei der Geschichte der Zwangssterilisationen, für deren flächendeckende Durchführung nicht weniger als 205 Erbgesundheitsgerichte und 20 Erbgesundheitsobergerichte geschaffen wurden, und bei den Einsprüchen gegen Heiratsverbote wegen ansteckender und erblicher Krankheiten oder geistiger Störungen. Freilich waren das keine gerichtsüblichen Einzelfallprüfungen, sondern summarische Verfahren mit haarsträubenden Begründungen.

Ein ganz trübes Kapitel bildet die deutsche Psychiatrie. Lange bevor in psychiatrischen Anstalten zwischen Januar 1940 und August 1941 70.273 Patienten mit Hilfe von 40 „wissenschaftlichen“ Gutachtern ermordet wurden, hatten die Spitzen der akademischen Psychiatrie in ihren Büchern und Aufsätzen den Massenmord schon vorgedacht. Klee fasst das mit dem Satz zusammen: „Die Psychiatrie wurde von den Nazis nicht missbraucht, sie brauchte die Nazis“, um ihre unmenschlichen Fantasien vom „lebensunwerten Leben“ in die Praxis umzusetzen.

Ein elendes Bild gibt neben der MPG auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ab. Entgegen der skandalös verharmlosenden Darstellung von Notker Hammerstein (1999) belegt Klee minutiös, wie viele der von der DFG geförderten Forscher und Forschungsvorhaben direkt oder indirekt mit Menschenversuchen, Massenmord und Militärforschung zu tun hatten. Unter Druck geraten, hat die DFG jetzt ein fünfjähriges Projekt gestartet, das die Geschichte dieser Verstrickungen aufhellen soll. Obwohl viele Akten „gesäubert“ oder vernichtet wurden, darf man auf das Ergebnis gespannt sein. Klees Buch bietet schon jetzt ein Nachschlagewerk für Namen und Tätigkeiten von rund 750 Wissenschaftlern, die sich „in den Dienst des Reiches hinsichtlich der rassenhygienischen Forschung“ gestellt hatten, wie Max Planck 1933 stolz verkündete.

Ernst Klee: „Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945“. S. Fischer, Frankfurt 2001, 416 Seiten, 49,87 DM (25,50 €)

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